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S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.10.3.10.
Lieber Freund
Ich höre von einer Ihnen angeblich nahestehenden
Seite, daß Sie ein ungarischer Faulpelz
sind. Glauben Sie es nicht, es ist Verleumdung.
Zum Erfolg des Lelekelemzös gratuliere ich herzlich,
ich bin sicher, daß in Linz oder Klagenfurt
kaum 40 Exemplare irgend eines meiner Bücher
aufzutreiben sind.Nun die gewaltigen Neuigkeiten! Jung ist plötzlich
nach Chicago abgereist, von McCormick, der
schwer erkrankt ist, gerufen u läßt durch seine
Frau versichern, daß er zum Kongreß zurück
sein wird. Fesch, nicht wahr? Die Kronprinzessin
Caecilie kom̄t am 15 in NY an, geht am 22 wieder
ab, landet am 28 in Cherbourg, so daß er am 29
abds oder 30st früh 5h in Nürnberg sein kann.
Da Jung also für die Osterkombination nicht
in Betracht kom̄t, kann ich Sie auffordern,
vielleicht einen Ostertag mit uns in Wien
zu verbringen, jedenfalls mit mir zu reisen
u den Tag vor dem Kongreß mir zu widmen.
Ich gedachte am Montag abds Wien zu ver-
lassen.Meine arme Mathilde hat sich gestern früh
wieder einer Nachoperation unterzogen,
die eine Anzal schlechter Verwachsungen
u zystischer Narben beseitigt hat. Die Ärzte
sind sehr zufrieden, ihr subjektives Befinden
ist noch sehr schlecht.Anmerkungen CD:
Lelekelemzös: Lélekelemzés
Kronprinzession Caecilie: "Der Doppelschrauben-Schnellpostdampfer Kronprinzessin Cecilie war ein Passagierschiff des Norddeutschen Lloyd, Bremen, das nach Cecilie von Mecklenburg-Schwerin benannt wurde. Sie war als Ehefrau Wilhelms von Preußenvon 1905 bis 1918 letzte Kronprinzessin des deutschen Kaiserreichs. Der Dampfer war das letzte von insgesamt vier Schwesterschiffen, die der Lloyd für den Transatlantik-Schnelldienst zwischen Bremerhaven und New York in Auftrag gegeben hatte und die unter der Bezeichnung Kaiserklasse bekannt wurden". Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kronprinzessin_Cecilie_(Schiff) [2025-21-03]
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S.
Meine Schwägerin Minna ist (soeben kom̄e ich
vom Nordbahnhof) durch ein Telegram̄ alarmirt,
zu unserer 80jährigen Mutter nach Hamburg
gereist. Meine Frau ist ja durch die Operation
festgehalten.The old Dog ist ganz besonders kräftig u wolauf u
schwankt, ob er nicht lieber Karlsbad aufgeben
soll. Ich (ich will das Inkognito lüften) schreibe
jede freie Stunde dh: jeden dritten Tag, am
Leonardo und habe es bis zu p. 40 gebracht. Eine
geheime Hoffnung bis zum Kongreß fertig zu
werden, besonders wenn ich einen Ostertag
dazu nehmen kann. Die Sextheorie ist da, ich schicke
sie Ihnen, wenn Sie sie nicht besitzen, sie ist nur
um wenige Anmerkungen bereichert. Die
Antwort von Pfister an Förster ist auch da.
Antiquitäten habe ich jüngst in hervorragender
Qualität erworben. Dunapentele wird
Mühe haben, den Standard zu erreichen.Lueger ist heute gestorben. Sie sehen, es geht
allerlei vor. Lassen Sie mich jetzt bald Gutes
zur Antwort hören.Ihr herzlich ergebener
FreudAnmerkungen aus: Brabant, Eva; Ernst Falzeder, Giamperi-Deutsch; Patrizia (Hg.): Sigmund Freud / Sandor Ferenczi Briefwechsel. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1993-2005. 1993 in Band I/1 (1908 –1911)
A In der Handschrift: Förster.
Linz, Klagenfurt: Landeshauptstädte der heutigen österreichischen Bundesländer Oberösterreich und Kärnten.
Harold Fowler McCormick: Vgl. Freud/Jung, 8., 9. und 16.3.1910, Briefwechsel, S. 332-335. Der Chicagoer Industrielle Harold Fowler McCormick (1872-1941), später ein Mäzen der analytischen Psychologie, hatte Jung bereits 1908 und 1909 in Zürich konsultiert.
Sextheorie: Die zweite Auflage von Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905d).
Dunapentele: Vgl. 84 F und Anm. 3, 96 F und Anm. 2.
Lueger: Karl Lueger: (1844-1910), Dr. jur., Gründer der Christlichsozialen Partei (1890), populistischer und antisemitischer Bürgermeister Wiens von 1897 bis zu seinem Tod. Von Hitler als sein politisches Vorbild bezeichnet.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
VII Erzsébet-kőrut 54
Budapest 1073
Ungarn
http://data.onb.ac.at/rec/AC16238491 Autogr. 1053/6(1–14) HAN MAG