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    PROF. DR. FREUD
    WIEN IX., BERGGASSE 19

    Verehrter Herr Doktor

    Nun sind auch Sie beim 60sten Jahrestag an-
    gekommen, während ich, um 6 Jahre älter, der
    Lebensgrenze nah gerückt bin und er-
    warten darf, bald das Ende vom fünften
    Akt dieser ziemlich unverständlichen und
    nicht immer amüsanten Komödie zu sehen.

    Wenn ich noch einen Rest von Glauben
    an die „Allmacht der Gedanken" bewahrt
    hätte, würde ich jetzt nicht versäumen, Ihnen
    die stärksten und herzlichsten Glückwünsche
    für die zu erwartende Folge von Jahren
    zuzuschicken. Ich überlasse dies thörichte Thun
    der unübersehbaren Schaar von Zeitge-
    nossen, die am 15t Mai Ihrer gedenken
    wird.

    Ich will Ihnen aber ein Geständnis ablegen,
    welches Sie gütigst aus Rücksicht für mich
    für sich behalten mit keinem Freunde
    oder Fremden theilen wollen.  Ich habe
    mich mit der Frage gequält, warum ich
    eigentlich in all diesen Jahren nie den
    Versuch gemacht habe, Ihren Verkehr auf-
    zusuchen und ein Gespräch mit Ihnen
    zu führen.  (Wobei natürlich nicht in Be-
    tracht gezogen wird, ob Sie selbst eine
    solche Annäherung von mir gerne
    gesehen hätten).

    Die Antwort auf diese Frage enthält
    das mir zu intim erscheinende Geständnis. 
    Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer
    Art von Doppelgängerscheu.  Nicht
    etwa, daß ich sonst so leicht geneigt

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    2wäre, mich mit einem anderen zu identifiziren,
    oder daß ich mich über die Differenz der Be-
    gabung hinwegsetzen wollte, die mich von
    Ihnen trennt, sondern ich habe immer wieder,
    wenn ich mich in Ihre schönen Schöpfungen
    vertiefte, hinter deren poetischen Schein die
    nämlichen Voraussetzungen, Interessen und
    Ergebniße zu finden geglaubt, die mir als
    die eigenen bekannt waren.  Ihr Determ-
    inismus wie Ihre Skepsis – was die Leute
    Pessimismus heissen –, Ihr Ergriffensein von
    den Wahrheiten des Unbewßten, von der
    Triebnatur des Menschen, Ihre Zersetzung
    der kulturell-konventionellen Sicher-
    heiten, das Haften Ihrer Gedanken an der
    Polarität von Lieben und Sterben, das alles
    berührte mich mit einer unheimlichen Ver-
    trautheit.  (In einer kleinen Schrift vom J 1920
    [Jenseits des Lustprinzips] habe ich versucht, den
    Eros und den Todestrieb als die Urkräfte auf-
    zuzeigen, deren Gegenspiel alle Rätsel des Lebens
    beherrscht.)  So habe ich den Eindruck gewonnen,
    daß Sie durch Intuition – eigentlich aber in
    Folge feiner Selbstwahrnehmung – alles das
    wissen, was ich in mühseligher Arbeit an anderen
    Menschen aufgedeckt habe.  Ja ich glaube, im
    Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psycholog-
    ischer Tiefenforscher, so ehrlich unparteiisch und
    unerschrocken wie nur je einer war, und
    wenn Sie das nicht wären, hätten Ihre
    künstlerischen Fähigkeiten, Ihre Sprachkunst
    und Gestaltungskraft, freies Spiel gehabt
    und Sie zu einem Dichter weit mehr nach
    dem Wunsch der Menge gemacht. Mit
    liegt es nahe, dem Forscher den Vorrang
    zu geben, aber verzeihen Sie, daß ich
    in die Analyse geraten bin, ich kann eben
    nichts anderes.  Nur weiß ich, dass die
    Analyse kein Mittel
    ist, sich beliebt zu machen.

    In herzlicher Ergebenheit
    Ihr Freud