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    [Briefkopf Wien] 

    26. 9. 16. 

    Lieber Freund 

    Es ging nicht, ich bin am 16/9 nach Wien ge-
    kom̄en u habe die sonstige Reisesaison 
    für heuer aufgehoben. Es ging nicht 
    aus verschiedenen, mündlich zu besprech-
    enden Gründen. Überdieß hatte sich Ferenczi 
    für Mitte d.M. zur Arbeit an seiner Analyse 
    angesagt, er ist allerdings verhindert worden 
    u heute noch nicht hier. Rank war bis gestern 
    abds hier auf der Rückfahrt von Konstantin-
    opel, wo er seinen Urlaub verbracht hatte, u 
    sehr entzückt vom Orient. Sonst sind viele 
    unserer Mitglieder transferirt, Tausk erkrankt 
    u.s.w. Wir werden als sehr kleiner Kreis 
    im Oktober eröffnen u uns dann nur ge-
    legentlich wiedersehen. 

    Die Zeitungen halten wir natürlich bis zur 
    letzten Möglichkeit. Der Druck der zweiten 
    Lieferung der Vorlesungen geht jetzt 
    flink von Statten. Heute habe ich von 
    Berlin eine schwachsinnige Abhandlung 
    von Placzek über die Freundschaft und 
    ein Geschwätz von Eulenburg über 
    Moralität u Sexualität erhalten. Soweit 
    die Wissenschaft. 

    Unsere beiden Jungen hatten wir ja in Salzburg 
    gleichzeitig auf Urlaub. Seither sind sie 
    beide auf dem Südtiroler Gebiet, geben

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    gelegentlich gute Nachrichten. Mein Schwiegersohn 
    zieht sich herum, wird nicht frei gelassen und 
    bekom̄t keine andere Verwendung. Seine 
    traumatische Neurose scheint zu blühen. Er ist 
    als nicht mehr felddiensttauglich erkannt. 

    Ihre Karte aus Regensburg war die 
    Geburtshelferin dieses Schreibens, das 
    sonst einige Tage später das Licht der Zensur 
    erblickt hätte. Glauben Sie mir, daß die 
    Beschränkung, die ich mir auferlegt habe, 
    mir selbst sehr leid thut. Man soll auch 
    in meinen Jahren nichts aufschieben. Aber 
    ich konnte gewiße Schwierigkeiten nicht 
    überwinden. 

    Ich habe von der Neurosenlehre 9 Vorlesungen 
    fertig gemacht, die ich nun in diesem 
    Semester vortragen werde. Ich gedenke, 
    dann überhaupt keine Vorlesungen 
    mehr zu halten. 

    In Gastein waren wir jeden Abend an 
    einem Tisch mit Exc Waldeyer zusam̄en, 
    der bei seinen 80 Jahren vollkom̄en 
    intakt ist u ein sehr feiner Mann 
    zu sein scheint. 

    Geben Sie mir bald wieder Nachricht 
    und seien Sie mit Frau u Kindern 
    herzlich gegrüßt von 
    Ihrem 
    Freud