-
S.
1
[Briefkopf Wien]
Karlsbad, Rudolfshof
1. 8. 15
Lieber Freund
Ich habe mich gefreut überhaupt Nachricht
von Ihnen zu haben, wenngleich nicht alles
Berichtete erfreulich war, sondern so bunt
wie das Leben jetzt ist. Zum Glück doch nichts
definitiv Schlechtes. Der Psychoanalytiker mag
erstaunt sein, aber er muß sich gewöhnen.Wir sind vor 14 Tagen hier angekom̄en
haben den alten Zauber der Sprudelstadt
vorgefunden, gute Kost und viel mehr Ruhe
als in früheren Jahren. Offiziere mit eisernen
Kreuzen anstatt der ladies in verrückten
Gewändern. Bis auf die Störung durch eine
Zahngeschichte bei meiner Frau dürften wir
sagen, es ging sehr gut. Wir denken auch
daran, den Aufenthalt um eine Woche
zu verlängern. Mitte August wollen wir
zum 80sten Geburtstag der Großmutter
in Ischl sein. (Nebenbei, 81/2 ist kein Ver-
schreiben sondern meine gewohnte
Schreibweise für 81-82; von den Traum-
notizen hergenommen: „“Tr vom 8/9 Aug“). Unsere
Kleine ist jetzt schon in Ischl.Gestern soll unser Ernst nach Galizien
abgegangen sein. Martin hat heiße -
S.
2
Kämpfe bestanden, einen Streifschuß am
rechten Arm u einen Schuß durch die Kappe be-
kommen, beide ohne Störung seiner Aktions-
fähigkeit. Er wurde wegen tapferen Ver-
haltens belobt. In der letzten Karte spricht
er von der Möglichkeit eines 14tägigen
Urlaubs. Er ist seit 20/1 draußen.Meine zwölf Abhandlungen sind hier fertig
worden. („Kriegsgreuel“, wie manches andere.)
Einige davon zB die über das Bewußtsein
bedürfen noch gründlicher Umarbeitung
Die Sendung von Manuskripten scheint
jetzt durch die Zensur sehr erschwert.
Was alles noch fallen muß, bis das Buch
gedruckt werden kann, ist nicht zu sagen.Verkehr schweigt. Von der Lou Andreas
das Versprechen eines Aufsatzes: Anal
und Sexual“. Die Redaktion der Imago starrt
in Waffen. Mein Haus in Wien ist offen,
bietet also für Zusendungen die beste
Adresse.Hoffentlich wird Ihnen dieser Brief ins
Mecklenburg’sche nachgeschickt.Herzliche Wünsche Ihr getreuer
Freud