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[Briefkopf Wien]
3. 7. 15.
Lieber Freund
Daß ich Ihnen so lange nicht geantwortet, hat
keine einfache, sondern eine sehr zusam-
mengesetzte Motivirung, um deren Auf-
lösung ich mich nun bemühen will. Zu
allererst war wohl ein Vorsatz da, Sie in
Ihrem langen Schweigen, das mir schon
Sorge gemacht hatte, nachzuahmen. Die
Sorge war ja wirklich nicht grundlos, da
die schwere Erkrankung Ihres Kleinen
in diese Lücke fiel. Sodann kam
die Wirkung unserer schönen Siege
hinzu, die sich in gesteigerter Arbeits-
fähigkeit äußerte, so daß ich heute
schon in der elften von den beab-
sichtigten zwölf Abhandlungen stecke.
Durch das Intervall bin ich außer Ord-
nung gekommen u weiß nicht, was ich
Ihnen bereits geschickt habe. Einiges
was die Manuskriptstufe bereits über-
schritten hat, ist ja transportabel.
Ganz ähnlich geht es mir mit dem umso
viel näheren u gelegentlich in Wien
auftauchenden Ferenczi. Unser Brief-
verkehr erfährt die sonderbarsten Unter-
brechungen, und ich kann nicht zusammen- -
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halten, was ich ihm zur Einsicht mitgeteilt habe.
Ich glaube, ich beurteile die Situation als
eine Wiederholung der anfänglichen
als ich produktiv und einsam war. Alle
meine Freunde u Helfer sind nun wirk-
lich Soldaten geworden und mir wie
entrückt. Selbst Rank, der in Wien
geblieben ist, hat sich seit seiner Ein-
rückung nicht sehen lassen. Er dient
bei der Festungsartillerie, Sachs wird
zum Train nach Linz abgehen. #Um nun assoziativ fortzufahren: Mein
Sohn Martin teilt mit, daß er endlich
auf russischem Boden steht, macht
aber Andeutungen, die nur meinen
können, daß er bald einen schöneren
Sommeraufenthalt beziehen wird,
also in Kennst‑du‑das‑Land oder zu-
nächst im Vorland. Ernst ist noch unbe-
schäftigt in Wr Neustadt und besucht uns
häufig. Der noch freie Oli hat inzwischen
seine letzte Prüfung als Ingenieur
abgelegt, hilft vorläufig seinem Onkel
im vereinsamten Tarifbureau aus.
Am gleichen Tag wie er hat sich meine
letzte Tochter zur geprüften Volks-
schullehrerin qualifizirt. Wir waren
also eine fleißige Familie. -
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Als dritte Motivirung
kam eine mehrtägige Abwesenheit
von Wien hinzu, die dem Besuch des
Berchtesgadner Ländchens galt. Es hat
mir so unerhört gefallen, so weit über
die Erinnerung der 5 Sommer, die
ich dort verbracht, daß ich mir nur
die Erklärung geben kann, die durch
den Verlust von Italien frei gewordene
Libido wolle sich dort niederlassen.
Unsere Sommerabsichten haben nun
Gestalt gewonnen. Wir gehen zuzweit
heute in zwei Wochen nach Karlsbad,
von dort aus wahrscheinlich nach Königs-
see oder Berchtesgaden, ein Aufent-
halt, der im August durch einen
Besuch in Ischl zum 80sten Geburts-
tag meiner Mutter unterbrochen
werden soll. (Mein Vater ist 81/2 geworden,
mein ältester Bruder ebenso alt,
trübe Aussichten!). Natürlich haben
in diesen Zeiten alle Pläne etwas
Unsicheres: Was sind Hoffnungen,
was sind Entwürfe, die der Mensch,
der vergängliche, schafft! -
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Gerne würde ich Ihnen über die Melan-
cholie weitere Auskunft geben, aber
es wäre wol nur in mündlicher
Diskussion gut möglich. Habe ich Ihnen
nicht das getypte Manuskript „Trauer und
Melancholie“ geschickt?Von Putnam ist gestern ein Buch Human
motives erschienen, populäre Arbeit aus
einer Series, Jung‑frei, aber im Dienst
des eigenen Steckenpferdes. Ich lege
den halben Umschlag bei, wenn er die
Zensur passirt. Sonst höre ich nur von
neutralen (und ungarischen) Übersetzungs-
versuchen.Es wird mich nun sehr freuen zu hören,
daß Ihr hoffnungsvoller Kleiner
sich ganz erholt und daß Sie wirklich
in einer Nervenabteilung ar-
beiten. Ihnen u Ihrer lieben Frau
herzliche Grüße und gute Wünsche
Ihr Freud