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[Briefkopf Wien]
4. 5. 15
Lieber Freund
Eine zweiwöchige Periode der Abschließung
von Deutschland ist endlich überwunden.
Heute erhielt ich gleichzeitig mit Ihrem lieben
Brief 12 Karten von meiner Frau aus
Hamburg! Ich beeile mich nun, Ihnen die
lange aufgeschobene Antwort zu schicken.Ihre Bemerkungen über die Melancholie
waren mit sehr wertvoll. Ich habe unbedenk-
lich davon in meinen Aufsatz eingetragen,
was ich brauchen konnte. Am wertvollsten
war mir der Hinweis auf die orale Phase der
Libido, auch Ihre Anknüpfung an die Trauer
ist erwähnt. Ihre Aufforderung strenge Kritik
zu üben, wurde mir leicht; mir hat fast
alles, was Sie schrieben, sehr gefallen. Nur
zweierlei will ich hervorheben: daß Sie das
Wesentliche der Annahme nicht genug aus-
zeichnen, di: das Topische daran, die Regression
der Libido und die Auflassung der ubw
Objektbesetzung, und daß Sie dafür Sadis-
mus u Analerotik als Erklärungsmotive
in den Vordergrund drängen. Obwol
Sie damit Recht haben, gehen Sie doch an
der eigentlichen Erklärung vorbei.
Analerotik, Kastrationskomplex, usw
sind ubiquitäre Quellen der Erregung
die an jedem Krankheitsbild ihren Anteil -
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haben müßen. Einmal wird dies daraus gemacht,
anderswo etwas anderes; es ist natürlich auch
eine Aufgabe herauszufinden, was woraus
geworden ist, aber die Erklärg der Affektion
kann einzig durch den Mechanismus gegeben
werden, dynamisch, topisch und ökonomisch
betrachtet. Ich weiß Sie werden mir bald
beistim̄en.Die Arbeit formiert sich nun. Ich habe 5 Abhand-
lungen fertig: die über Triebe u Trischicks-
ale, die wol etwas dürr ist, aber als Ein-
leitung unentbehrlich, auch ihre Rechtfertig-
ung in den folgenden findet, dann die
Verdrängung, das Unbewußte, Metapsycho-
logische Ergänzung zur Traumlehre und
Trauer u Melancholie. Die 4 ersten sollen
im eben eingeleiteten Jahrgang der
Zeitsch veröffentlicht werden, alles übrige
behalte ich für mich. Wenn der Krieg
lange genug dauert, hoffe ich etwa ein
Dutzend solcher Arbeiten zusam̄enzu-
bekommen und sie dann in ruhigeren
Zeiten unter dem Titel: Abhandlungen
zur Vorbereitung der Metapsychologie
der unverständigen Welt zu übergeben.
Ich glaube, es wird im Ganzen ein Fortschritt
sein. Art und Niveau des VII. Abschnittes
der Traumdeutung. -
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Die Arbeit über die Melancholie habe
ich vor einer Viertelstunde abgeschloßen. Ich
werde sie typewriten lassen, um Ihnen einen
Abzug zu schicken. Sie versprechen dafür
weitere Äußerungen.Meinem Ältesten geht es in Galizien gut, er
hat die höchste Unteroffcharge erreicht u
heißt sich Feuerwerker. Ob er bei der
letzten Affaire dabei war, weiß ich noch
nicht. Seine Karte vom 26/4 klang noch ganz
idyllisch. Ernst hat noch immer in Klagenfurt
die Offiziersprüfung mit besonders gutem
Erfolg abgelegt u wartet. Er wird wol
bald „Führer“ werden (xxx). Worauf er wartet,
können Sie erraten. Es muß mit Italien
sehr bald zur Entscheidung kommen, und
das meiste spricht dafür, daß es keine fried-
liche sein wird. Schade, daß der so lange
entbehrte Siegesjubel dieser Tage durch
diese Aussicht getrübt wird. Unsere Be-
wunderung für unseren großen Bundes-
genoßen wächst täglich!Daß Ihnen sogar der „Zeitgemäße“ gefallen hat,
finde ich sehr freundlich. Die Fortsetzung
über den „Tod“ wird Sie bald erreichen.
Ihre Bemerkung über die Analogie
mit der Totemmalzeit ist voll zutreffend. -
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Interessant, wie jedes bißchen Affektstim̄ung beim
Autor den Ausblick einengt. Was Sie von
Ihren Kindern schreiben, ist sehr praegnant.
Es giebt doch beständig was zu sehen und
zu verstehen.Wir haben uns alle mit unerwarteter
Anpassungsfähigkeit an die Kriegszeit ge-
wöhnt, so daß auch wir sagen können, es
geht uns gut. Am meisten überrascht
mich die Fähigkeit, Praxis u Erwerb nicht
zu entbehren. Wie ich mich wieder einmal
auf 6 oder 8stündige Arbeit einrichten
soll – ich war an 10 gewöhnt – ist mir dunkel.
Ob die Elastizität nach beiden Richtungen
gleich groß ist? „Man gewöhnt sich leicht
an den angenehmen Geschmack“, zitieren
wir gerne nach einer hier verbreiteten
Reklame. Wenn Sie dies lesen, bin ich
59 Jahre alt geworden und hätte vielleicht
schon ein Recht auf Bequemlichkeit, aber
keinen Weg, es geltend zu machen. Also
C. C.! und den Nachkommenden auch etwas
übrig lassen.Ich hoffe, daß Sie auch der wiedereröffneten
Postverbindung häufig bedienen
werden u bitte Sie, Ihre liebe Frau herzlich
von mir zu grüßen.
Ihr alter
Freud