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Die Ichspaltung
im Abwehralsmechanismusvorgang.von
Sigm FreudIch befinde mich einen Moment lang in
der interessanten Lage nicht zu wissen,
ob das, was ich mitteilen will, als längst
bekannt und selbstverständlich oder als
völlig neu und befremdend gewertet
werden soll. Ich glaube aber eher
das letztere.Es ist mir endlich aufgefallen, dass das
jugendliche Ich der Person, die man
Jahrzehnte später als analytischen Patienten
kennen lernt, sich in bestim̄ten Situationen
der Bedrängnis in merkwürdiger Weise
benommen hat. Die Bedingung hiefür
kann man allgemein und eher unbestim̄t
angeben, wenn man sagt, es geschieht
unter der Einwirkung eines psychischen
Traumas. Ich ziehe es vor, einen scharf
umschriebenen Einzelfall hervorzuheben,
der gewiss nicht alle Möglichkeiten
der Verursachung deckt. Das Ich des
Kindes befinde sich also im Dienste
eines mächtigen Triebanspruchs, den
zu befriedigen es gewohnt ist, und wird
plötzlich durch ein Erlebnis geschreckt, das
ihn lehrt, die Fortsetzung dieser Befried-
igung werde eine schwer erträgliche
reale Gefahr zur Folge haben. Es soll
sich nun entscheiden: entweder die
reale Gefahr anerken̄en, sich vor ihr
beugen und auf die Triebbefriedigung
verzichten, oder die Realität verleug-
nen, sich glauben machen, dass kein
Grund zum Fürchten besteht, damit
es an der Befriedigung festhalten
kann. Es ist also ein Konflikt zwischen
dem Anspruch des Triebes und dem
Einspruch der Realität. Das Kind thut
aber keines von beiden, oder viel-
mehr, es thut gleichzeitig beides, was
auf dasselbe hinaus kom̄t. Es antwortet
auf den Konflikt mit zwei entgegen-
gesetzten Reaktionen, beide giltig
und wirksam. Einerseits weist es
mit Hilfe bestim̄ter Mechanismen die
Realität ab und läßt sich nichts ver-
bieten, anderseits anerkennt es im
gleichen Atem die Gefahr der Realität,S.
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nim̄t die Angst vor ihr als Leidenssymptom
auf sich und sucht sich später ihrer zu erwehren.Man muss zugeben, das ist eine sehr ge-
schickte Lösung der Schwierigkeit. Beide
streitende Parteien haben ihr Teil be-
kom̄en; der Trieb darf seine Befriedigung
behalten, der Realität ist der gebührende
Respekt gezollt worden. Aber umsonst
ist bekanntlich nur der Tod. Der Erfolg
wurde erreicht auf Kosten eines Einrißes
im Ich, der nie wieder verheilen
aber sich mit der Zeit vergrößern wird. Die
beiden entgegengesetzten Reaktionen
auf den Konflikt bleiben als Kern
einer Ichspaltung bestehen. Der ganze
Vorgang erscheintuns so sonderbar¿
weil wir die Synthese der Ichvorgänge
für etwas Selbstverständliches halten.
Aber wir haben offenbar darin
Unrecht. Die so außerordentlich wichtige
synthetische Funktion des Ichs hat ihre
besonderen Bedingungen und unter-
liegt einer ganzen Reihe von
Störungen.Es kann nur von Vorteil sein, wenn
ich in diese schematische Darstellung die
Daten einer besonderen Krankengeschichte
einsetze. Ein Knabe hat im Alter zwischen
drei und vier Jahren das weibliche Geni-
tale ken̄en gelernt durch Verführung
von Seiten eines älteren Mädchens. Nach
Abbruch dieser Beziehungen setzt er die
so empfangene sexuelle Anregung in
eifriger manueller Onanie fort, wird
aber bald von der energischen Kinderpfleg-
erin ertappt und mit der Kastration
bedroht, deren Ausführung, wie gewöhnlich,
dem Vater zugeschoben wird. Die Be-
dingungen für eine ungeheure Schreck-
wirkung sind in diesem Falle gegeben.
Die Kastrationsdrohung für sich allein
muß nicht viel Eindruck machen, das
Kind verweigert ihr den Glauben, es kann
sich nicht leicht vorstellen, dass eine
Trennung von dem so hoch eingeschätzten
Körperteil möglich ist. Beim Anblick
des weiblichen Genitales hätte sich das
Kind von einer solchen Möglichkeit
überzeugen können, aber das Kind
hatte damals den Schluß nicht gezogen,S.
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weil die Abneigung dagegen zu groß
war
und kein Motiv vorhanden war, das ihn
erzwang. Im Gegenteile, was sich etwa
an Unbehagen regte, wurde durch die
Auskunft beschwichtigt, was da fehlt, wird
noch kom̄en, es – das Glied – wird ihr später
wachsen. Wer genug kleine Knaben beob-
achtet hat, kann sichalsan eine solche
Äußerung beim Anblick des Genitales
der kleinen Schwester erinnern. Anders
aber, wenn beide Momente zusam̄en-
getroffen sind. Dann weckt die Drohung
die Erinnerung an die für harmlos
gehalteneBeobWahrnehmung und findet
in ihr die gefürchtete Bestätigung. Der
Knabe glaubt jetzt zu verstehen, warum
das Genitale des Mädchens keinen Penis
zeigte und wagt es nicht mehr zu be-
zweifeln, daß seinem eigenen Genitale
das Gleiche widerfahren kann. Er muß
fortan an an die Realität der Kastrations-
gefahr glauben.Die gewöhnliche, die als normal geltende
Folge des Kastrationsschrecks ist nun, daß
der Knabe der Drohung nachgiebt, im vollen
oder wenigstens im partiellen Gehorsam,
– indem er nicht mehr die Hand ans
Genitale führt – entweder sofort oder
nach längerem Kampf, also auf die
Befriedigung des Triebes ganz oder teil-
weise verzichtet. Wir sind aber darauf
vorbereitet, daß unser Patient sich anders
zu helfen wußte. Er schuf sich einen Ersatz
für den vermißten Penis des Weibes,
einen Fetisch. Damit hatte er zwar die Realität
verleugnet, aber seinen eigenen Penis
gerettet. Wenn er nicht anerken̄en mußte,
daß das Weibseinenihren Penis verloren hatte,
so büßte die ihm erteilte Drohung ihre
Glaubwürdigkeit ein, dann brauchte er
auch für seinen Penis nicht zu fürchten,
konnte ungestört seine Masturbation
fortsetzen. Dieser Akt unseres Patienten
imponiert uns als eine Abwendung von
der Realität, als ein Vorgang, den wir
gern der Psychose vorbehaltenauffassen
möchten. Er ist auch nicht viel anderes,
aber wir wollen doch unser Urteil
suspendiren, denn bei näherer Betrach-
tung entdecken wir einen nicht un-
wichtigen Unterschied. Der KnabeS.
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hat nicht einfach seiner Wahrnehmung wider-
sprochen, einen Penis dorthin halluzinirt, wo
keiner zu sehen war, sondern er hat nur
eine Wertverschiebung vorgenom̄en, die
Penisbedeutung einem anderen Körper-
teil übertragen, wobei ihm – in hier nicht
anzuführender Weise – der Mechanismus
der Regression zu Hilfe kam. Freilich
betraf diese Verschiebung nur den Körper
des Weibes, für den eigenen Penis
änderte sich nichts.,Diese, man möchte sagen, kniffige Behand-
lung der Realität entscheidet über
das praktische Benehmen des Knaben.
Er betreibt seine Masturbation weiter, als
ob sie seinem Penis keine Gefahr bringen
könnte aber gleichzeitig entwickelt er
in vollem Widerspruch zu seiner anschein-
enden Tapferkeit oder Unbeküm̄ertheit
ein Symptom, welches beweist, dass er diese
Gefahr doch anerkennt. Es ist ihm ange-
droht worden, dass der Vater ihn kastriren
wird, und unmittelbar nachher, gleich-
zeitig mit der Schöpfung des Fetisch, tritt
bei ihm eine intensive Angst vor der
Bestrafung durch den Vater auf, die
ihn lange beschäftigen wird, die er
nur mitgroßemdem ganzen Aufwand seiner Männlichkeit bewältigen
und überkompensiren kann.
Auch diese Angst
vor dem Vater schweigt von der
Kastration. mit Hilfe der Regression
auf eine orale Phase erscheint sie
als Angst vom Vater gefreßen zu
werden. Es ist unmöglich hier nicht
eines urtümlichen Stücks der griech-
ischen Mythologie zu gedenken, das
berichtet, wie der alte Vatergott
Kronos seine Kinder verschlingt und
auch den jüngsten Sohn Zeus verschlingen
will und wie der durch die List
der Mutter gerettete Zeus später
den Vater entmannt. Um aber
zu unserem Fall zurückzukehren
fügen wir hinzu, dass er noch ein ande-
res, wenn auch geringfügiges Symptom
produzirte, das er bis auf den heutigen
Tag festgehalten hat, eine ängstliche
Empfindlichkeit seiner beiden kleinen
Zehen gegen Berührung, als ob in dem
sonstigen Hin und Her von Verleug-
nung und Anerken̄ung der Kastration
doch noch ein deutlicherer Ausdruck zukäme.S.
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