• S.

    4. Dez 11

    Mein lieber Doktor

    Bei Ihrem letzten Brief habe ich in re-
    gressiver Weise etwas wiederholt,
    was ich schon lange nicht gethan hatte, vor-
    wärts geblättert, um zu erfahren, wie es
    ausgeht. Ich habe dann aufgeatmet,
    als ich zum guten Ausgang kam, und
    hoffe, ich werde nichts Böses mehr zu hören
    bekom̄en. Das liebe Kind erholt sich
    wol bald, aber ich kann mir denken,
    daß es eine Prüfung für die Eltern
    war. Wir haben mit unseren Kleinen
    in den ersten Jahren nie Sorgen gehabt;
    dafür kam allerlei Böses später.

    Ihren Auftrag an Deuticke habe ich
    ausgerichtet, werde mich beim nächsten
    Wiedersehen erkundigen, ob er sein
    Versprechen gehalten hat. Daß die Trdeutg
    im Druck ist, hat mich sehr gefreut
    wie alle Nachrichten von wissen-
    schaftlicher Thätigkeit, die Sie geben.

    Putnam ist in beständiger Korrespondenz
    mit mir u anscheinend sehr dankbar für
    ein bischen Analyse, das ich ihm in Weimar
    gegeben habe. Mit Jones ist es wirklich
    ein Kreuz; da liegt sein schwacher Punkt, 

  • S.

    natürlich im Zusam̄enhang mit der großen
    Liebe in seinem Leben, in Folge der
    Krankheit seiner Frau. Was bleibt
    uns übrig als tolerant - und vorsichtig
    sein.

    Bei uns in Wien geht es jetzt nach dem Aus-
    scheiden aller Adlerianer sehr gut zu, wir
    bereiten ein Symposion über Onanie
    als zweites Heft der W. Diskussionen
    vor. In der Praxis macht sich die Wülarbeit
    der Gegner so deutlich fühlbar, daß ich
    weniger als in früheren Jahren an die
    Schüler abgeben kann. Ich selbst bin von
    8-8 h beschäftigt. In Zürich herrschen wieder
    Spannungen, in die ich eingreifen mußte.
    Bleuler ist doch wieder ausgetreten,
    weil man von seinem Assistenten ver-
    langt hatte, er solle entweder eintreten
    oder ausbleiben; er hatte sich nur herbei-
    gelassen, als Gast zu kom̄en. Bl. schrieb
    an mich u ich mußte ihm auf der ganzen
    Linie Unrecht geben. Ob er jetzt noch
    andere Konsequenzen ziehen wird,
    weiß ich nicht, - aber es ist mit ihm nicht
    auszuhalten. Schade, daß Jung dort
    nicht mehr Glück hat. Die Zentrale
    war überhaupt bis jetzt sehr unthätig
    u hat noch keinen Beitrag zum Zentralblatt 

  • S.

    gebracht, wie er an Stelle des
    Korrespbl. beabsichtigt war.

    Im vorigen Monat haben
    wir endlich das neue, nicht
    mediz. Blatt, bei Heller
    zu Stande gebracht. Es wird
    wol „Imago“ heißen; die
    erste Nummer soll im März
    1912 erscheinen. Rank u Sachs
    sind, wie Sie wissen, Redakteure.
    So geht Erfreuliches u Uner-
    freuliches durcheinander.

    Ich bin von meinen Studien
    über Religionspsychologie
    außerordentlich in Anspruch
    genom̄en u kann derzeit
    an Veröffentlichung nicht
    denken. Einige Vorläufer 

  • S.

    sollen in der neuen Zeitschrift
    erscheinen. Kleinere technische
    Artikel werden nach
    einander im Zentralblatt
    zum Vorschein kom̄en.

    Im Hause giebt es zum
    Glück nichts Neues.

    Ich grüße Sie herzlich
    u bitte Sie, Ihrer Frau
    innige Teilnahme zu
    den überstandenen
    Sorgen auszudrücken.

    Ihr herzlich ergebener
    Freud