Jenseits des Lustprinzips 1920-004/1931
1920-004/1931 Jenseits des Lustprinzips
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    JENSEITS DES LUSTPRINZIPS

    (1916)

    I

    In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbe-
    denklich an, daß der Ablauf der seelischen Vorgänge auto-
    matisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt,
    wir glauben, daß er jedesmal durch eine unlustvolle Span-
    nung angeregt wird und dann eine solche Richtung ein-
    schlägt, daß sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser
    Spannung, also mit einer Vermeidung von Unlust oder
    Erzeugung von Lust zusammenfällt. Wenn wir die von uns
    studierten seelischen Prozesse mit Rücksicht auf diesen
    Ablauf betrachten, führen wir den ökonomischen Gesichts-
    punkt in unsere Arbeit ein. Wir meinen, eine Darstellung,
    die neben dem topischen und dem dynamischen Moment
    noch dies ökonomische zu würdigen versuche, sei die voll-
    ständigste, die wir uns derzeit vorstellen können, und ver-
    diene es, durch den Namen einer metapsychologi-
    schen
    hervorgehoben zu werden.

    Es hat dabei für uns kein Interesse, zu untersuchen,
    inwieweit wir uns mit der Aufstellung des Lustprinzips
    einem bestimmten, historisch festgelegten, philosophischen
    System angenähert oder angeschlossen haben. Wir gelangen

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    zu solchen spekulativen Annahmen bei dem Bemühen, von
    den Tatsachen der täglichen Beobachtung auf unserem
    Gebiete Beschreibung und Rechenschaft zu geben. Priorität
    und Originalität gehören nicht zu den Zielen, die der
    psychoanalytischen Arbeit gesetzt sind, und die Eindrücke,
    welche der Aufstellung dieses Prinzips zugrunde liegen, sind
    so augenfällig, daß es kaum möglich ist, sie zu übersehen.
    Dagegen würden wir uns gerne zur Dankbarkeit gegen eine
    philosophische oder psychologische Theorie bekennen, die
    uns zu sagen wüßte, was die Bedeutungen der für uns so
    imperativen Lust‑ und Unlustempfindungen sind. Leider
    wird uns hier nichts Brauchbares geboten. Es ist das
    dunkelste und unzugänglichste Gebiet des Seelenlebens, und
    wenn wir unmöglich vermeiden können, es zu berühren, so
    wird die lockerste Annahme darüber, meine ich, die beste
    sein. Wir haben uns entschlossen, Lust und Unlust mit der
    Quantität der im Seelenleben vorhandenen – und nicht
    irgendwie gebundenen – Erregung in Beziehung zu bringen,
    solcher Art, daß Unlust einer Steigerung, Lust einer Verrin-
    gerung dieser Quantität entspricht. Wir denken dabei nicht
    an ein einfaches Verhältnis zwischen der Stärke der Emp-
    findungen und den Veränderungen, auf die sie bezogen
    werden; am wenigsten – nach allen Erfahrungen der
    Psychophysiologie – an direkte Proportionalität; wahr-
    scheinlich ist das Maß der Verringerung oder Vermehrung
    in der Zeit das für die Empfindung entscheidende Moment.
    Das Experiment fände hier möglicherweise Zutritt, für uns
    Analytiker ist weiteres Eingehen in diese Probleme nicht
    geraten, solange nicht ganz bestimmte Beobachtungen uns
    leiten können.

    Es kann uns aber nicht gleichgültig lassen, wenn wir
    finden, daß ein so tiefblickender Forscher wie G. Th. Fech-
    ner
    eine Auffassung von Lust und Unlust vertreten hat,

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    welche im wesentlichen mit der zusammenfällt, die uns von
    der psychoanalytischen Arbeit aufgedrängt wird. Die Äuße-
    rung Fechners ist in seiner kleinen Schrift: Einige Ideen
    zur Schöpfungs‑ und Entwicklungsgeschichte der Organismen,
    1873 (Abschnitt XI, Zusatz, p. 94), enthalten und lautet
    wie folgt: „Insofern bewußte Antriebe immer mit Lust
    oder Unlust in Beziehung stehen, kann auch Lust oder
    Unlust mit Stabilitäts‑ und Instabilitätsverhältnissen in
    psychophysischer Beziehung gedacht werden, und es läßt
    sich hierauf die anderwärts von mir näher zu entwickelnde
    Hypothese begründen, daß jede die Schwelle des Bewußt-
    seins übersteigende psychophysische Bewegung nach Maß-
    gabe mit Lust behaftet sei, als sie sich der vollen Stabilität
    über eine gewisse Grenze hinaus nähert, mit Unlust nach
    Maßgabe, als sie über eine gewisse Grenze davon abweicht,
    indes zwischen beiden, als qualitative Schwelle der Lust
    und Unlust zu bezeichnenden Grenzen eine gewisse Breite
    ästhetischer Indifferenz besteht …

    Die Tatsachen, die uns veranlaßt haben, an die Herrschaft
    des Lustprinzips im Seelenleben zu glauben, finden auch
    ihren Ausdruck in der Annahme, daß es ein Bestreben des
    seelischen Apparates sei, die in ihm vorhandene Quantität
    von Erregung möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu
    erhalten. Es ist dasselbe, nur in andere Fassung gebracht,
    denn wenn die Arbeit des seelischen Apparates dahin geht,
    die Erregungsquantität niedrig zu halten, so muß alles, was
    dieselbe zu steigern geeignet ist, als funktionswidrig, das
    heißt als unlustvoll empfunden werden. Das Lustprinzip
    leitet sich aus dem Konstanzprinzip ab; in Wirklichkeit
    wurde das Konstanzprinzip aus den Tatsachen erschlossen,
    die uns die Annahme des Lustprinzips aufnötigten. Bei ein-
    gehenderer Diskussion werden wir auch finden, daß dies
    von uns angenommene Bestreben des seelischen Apparates

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    sich als spezieller Fall dem Fechnerschen Prinzip der
    Tendenz zur Stabilität unterordnet, zu dem er die
    Lust‑Unlustempfindungen in Beziehung gebracht hat.

    Dann müssen wir aber sagen, es sei eigentlich unrichtig,
    von einer Herrschaft des Lustprinzips über den Ablauf der
    seelischen Prozesse zu reden. Wenn eine solche bestände,
    müßte die übergroße Mehrheit unserer Seelenvorgänge von
    Lust begleitet sein oder zur Lust führen, während doch die
    allgemeinste Erfahrung dieser Folgerung energisch wider-
    spricht. Es kann also nur so sein, daß eine starke Tendenz
    zum Lustprinzip in der Seele besteht, der sich aber gewisse
    andere Kräfte oder Verhältnisse widersetzen, so daß der
    Endausgang nicht immer der Lusttendenz entsprechen kann.
    Vergleiche die Bemerkung Fechners bei ähnlichem An-
    lasse (ebenda, p. 90): „Damit aber, daß die Tendenz zum
    Ziele noch nicht die Erreichung des Zieles bedeutet und
    das Ziel überhaupt nur in Approximationen erreichbar
    ist …
    “ Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, welche
    Umstände die Durchsetzung des Lustprinzips zu vereiteln
    vermögen, dann betreten wir wieder sicheren und bekannten
    Boden und können unsere analytischen Erfahrungen in rei-
    chem Ausmaße zur Beantwortung heranziehen.

    Der erste Fall einer solchen Hemmung des Lustprinzips
    ist uns als ein gesetzmäßiger vertraut. Wir wissen, daß das
    Lustprinzip einer primären Arbeitsweise des seelischen Appa-
    rates eignet, und daß es für die Selbstbehauptung des Orga-
    nismus unter den Schwierigkeiten der Außenwelt so recht
    von Anfang an unbrauchbar, ja in hohem Grade gefährlich
    ist. Unter dem Einflusse der Selbsterhaltungstriebe des Ichs
    wird es vom Realitätsprinzip abgelöst, welches,
    ohne die Absicht endlicher Lustgewinnung aufzugeben, doch
    den Aufschub der Befriedigung, den Verzicht auf mancherlei
    Möglichkeiten einer solchen und die zeitweilige Duldung der

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    Unlust auf dem langen Umwege zur Lust fordert und durch-
    setzt. Das Lustprinzip bleibt dann noch lange Zeit die
    Arbeitsweise der schwerer „erziehbaren“ Sexualtriebe, und
    es kommt immer wieder vor, daß es, sei es von diesen
    letzteren aus, sei es im Ich selbst, das Realitätsprinzip zum
    Schaden des ganzen Organismus überwältigt.

    Es ist indes unzweifelhaft, daß die Ablösung des Lust-
    prinzips durch das Realitätsprinzip nur für einen geringen
    und nicht für den intensivsten Teil der Unlusterfahrungen
    verantwortlich gemacht werden kann. Eine andere, nicht
    weniger gesetzmäßige Quelle der Unlustentbindung ergibt
    sich aus den Konflikten und Spaltungen im seelischen
    Apparat, während das Ich seine Entwicklung zu höher
    zusammengesetzten Organisationen durchmacht. Fast alle
    Energie, die den Apparat erfüllt, stammt aus den mitge-
    brachten Triebregungen, aber diese werden nicht alle zu den
    gleichen Entwicklungsphasen zugelassen. Unterwegs geschieht
    es immer wieder, daß einzelne Triebe oder Triebanteile sich
    in ihren Zielen oder Ansprüchen als unverträglich mit den
    übrigen erweisen, die sich zu der umfassenden Einheit des
    Ichs zusammenschließen können. Sie werden dann von dieser
    Einheit durch den Prozeß der Verdrängung abgespalten,
    auf niedrigeren Stufen der psychischen Entwicklung zurück-
    gehalten und zunächst von der Möglichkeit einer Befriedi-
    gung abgeschnitten. Gelingt es ihnen dann, was bei den ver-
    drängten Sexualtrieben so leicht geschieht, sich auf Um-
    wegen zu einer direkten oder Ersatzbefriedigung durchzu-
    ringen, so wird dieser Erfolg, der sonst eine Lustmöglich-
    keit gewesen wäre, vom Ich als Unlust empfunden. Infolge
    des alten, in die Verdrängung auslaufenden Konfliktes hat
    das Lustprinzip einen neuerlichen Durchbruch erfahren,
    gerade während gewisse Triebe am Werke waren, in Befol-
    gung des Prinzips neue Lust zu gewinnen. Die Einzelheiten

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    des Vorganges, durch welchen die Verdrängung eine Lust-
    möglichkeit in eine Unlustquelle verwandelt, sind noch nicht
    gut verstanden oder nicht klar darstellbar, aber sicherlich
    ist alle neurotische Unlust von solcher Art, ist Lust, die
    nicht als solche empfunden werden kann.1

    Die beiden hier angezeigten Quellen der Unlust decken
    noch lange nicht die Mehrzahl unserer Unlusterlebnisse, aber
    vom Rest wird man mit einem Anschein von gutem Recht
    behaupten, daß sein Vorhandensein der Herrschaft des Lust-
    prinzips nicht widerspricht. Die meiste Unlust, die wir ver-
    spüren, ist ja Wahrnehmungsunlust, entweder Wahrnehmung
    des Drängens unbefriedigter Triebe oder äußere Wahr-
    nehmung, sei es, daß diese an sich peinlich ist, oder daß sie
    unlustvolle Erwartungen im seelischen Apparat erregt, von
    ihm als „Gefahr“ erkannt wird. Die Reaktion auf diese
    Triebansprüche und Gefahrdrohungen, in der sich die eigent-
    liche Tätigkeit des seelischen Apparates äußert, kann dann
    in korrekter Weise vom Lustprinzip oder dem es modifi-
    zierenden Realitätsprinzip geleitet werden. Somit scheint es
    nicht notwendig, eine weitergehende Einschränkung des
    Lustprinzips anzuerkennen, und doch kann gerade die Unter-
    suchung der seelischen Reaktion auf die äußerliche Gefahr
    neuen Stoff und neue Fragestellungen zu dem hier behan-
    delten Problem liefern.

    II

    Nach schweren mechanischen Erschütterungen, Eisenbahn-
    zusammenstößen und anderen, mit Lebensgefahr verbundenen
    Unfällen ist seit langem ein Zustand beschrieben worden, dem

    1) Das wesentliche ist wohl, daß Lust und Unlust als bewußte
    Empfindungen an das Ich gebunden sind.

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    dann der Name „traumatische Neurose“ verblieben ist. Der
    schreckliche, eben jetzt abgelaufene Krieg hat eine große
    Anzahl solcher Erkrankungen entstehen lassen und wenigstens
    der Versuchung ein Ende gesetzt, sie auf organische Schädi-
    gung des Nervensystems durch Einwirkung mechanischer
    Gewalt zurückzuführen.2 Das Zustandsbild der traumatischen
    Neurose nähert sich der Hysterie durch seinen Reichtum an
    ähnlichen motorischen Symptomen, übertrifft diese aber in
    der Regel durch die stark ausgebildeten Anzeichen subjektiven
    Leidens, etwa wie bei einer Hypochondrie oder Melancholie,
    und durch die Beweise einer weit umfassenderen allgemeinen
    Schwächung und Zerrüttung der seelischen Leistungen. Ein
    volles Verständnis ist bisher weder für die Kriegsneurosen
    noch für die traumatischen Neurosen des Friedens erzielt
    worden. Bei den Kriegsneurosen wirkte es einerseits aufklä-
    rend, aber doch wiederum verwirrend, daß dasselbe Krank-
    heitsbild gelegentlich ohne Mithilfe einer groben mechanischen
    Gewalt zustande kam; an der gemeinen traumatischen Neu-
    rose heben sich zwei Züge hervor, an welche die Überlegung
    anknüpfen konnte, erstens, daß das Hauptgewicht der Ver-
    ursachung auf das Moment der Überraschung, auf den
    Schreck, zu fallen schien, und zweitens, daß eine gleichzeitig
    erlittene Verletzung oder Wunde zumeist der Entstehung der
    Neurose entgegenwirkte. Schreck, Furcht, Angst werden mit
    Unrecht wie synonyme Ausdrücke gebraucht; sie lassen sich in
    ihrer Beziehung zur Gefahr gut auseinanderhalten. Angst
    bezeichnet einen gewissen Zustand wie Erwartung der Gefahr
    und Vorbereitung auf dieselbe, mag sie auch eine unbekannte
    sein; Furcht verlangt ein bestimmtes Objekt, vor dem man
    sich fürchtet; Schreck aber benennt den Zustand, in den

    2) Vgl. Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Mit Beiträgen
    von Ferenczi, Abraham, Simmel und E. Jones. Band I
    der Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek, 1919.

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    man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vor-
    bereitet zu sein, betont das Moment der Überraschung. Ich
    glaube nicht, daß die Angst eine traumatische Neurose
    erzeugen kann; an der Angst ist etwas, was gegen den
    Schreck und also auch gegen die Schreckneurose schützt. Wir
    werden auf diesen Satz später zurückkommen.

    Das Studium des Traumes dürfen wir als den zuver-
    lässigsten Weg zur Erforschung der seelischen Tiefenvorgänge
    betrachten. Nun zeigt das Traumleben der traumatischen
    Neurose den Charakter, daß es den Kranken immer wieder
    in die Situation seines Unfalles zurückführt, aus der er mit
    neuem Schrecken erwacht. Darüber verwundert man sich viel
    zu wenig. Man meint, es sei eben ein Beweis für die Stärke
    des Eindruckes, den das traumatische Erlebnis gemacht hat,
    daß es sich dem Kranken sogar im Schlaf immer wieder auf-
    drängt. Der Kranke sei an das Trauma sozusagen psychisch
    fixiert. Solche Fixierungen an das Erlebnis, welches die
    Erkrankung ausgelöst hat, sind uns seit langem bei der
    Hysterie bekannt. Breuer und Freud äußerten 1893: Die
    Hysterischen leiden großenteils an Reminiszenzen. Auch bei
    den Kriegsneurosen haben Beobachter wie Ferenczi und
    Simmel manche motorische Symptome durch Fixierung
    an den Moment des Traumas erklären können.

    Allein es ist mir nicht bekannt, daß die an traumatischer
    Neurose Krankenden sich im Wachleben viel mit der Erin-
    nerung an ihren Unfall beschäftigen. Vielleicht bemühen sie
    sich eher, nicht an ihn zu denken. Wenn man es als selbst-
    verständlich hinnimmt, daß der nächtliche Traum sie wieder
    in die krankmachende Situation versetzt, so verkennt man
    die Natur des Traumes. Dieser würde es eher entsprechen,
    dem Kranken Bilder aus der Zeit der Gesundheit oder der
    erhofften Genesung vorzuführen. Sollen wir durch die
    Träume der Unfallsneurotiker nicht an der wunscherfüllenden 

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    Tendenz des Traumes irre werden, so bleibt uns etwa
    noch die Auskunft, bei diesem Zustand sei wie so vieles
    andere auch die Traumfunktion erschüttert und von ihren
    Absichten abgelenkt worden, oder wir müßten der rätsel-
    haften masochistischen Tendenzen des Ichs gedenken.

    Ich mache nun den Vorschlag, das dunkle und düstere
    Thema der traumatischen Neurose zu verlassen und die
    Arbeitsweise des seelischen Apparates an einer seiner früh-
    zeitigsten normalen Betätigungen zu studieren. Ich meine
    das Kinderspiel.

    Die verschiedenen Theorien des Kinderspieles sind erst
    kürzlich von S. Pfeifer in der „Imago“ (V/4) zusammen-
    gestellt und analytisch gewürdigt worden; ich kann hier auf
    diese Arbeit verweisen. Diese Theorien bemühen sich, die
    Motive des Spielens der Kinder zu erraten, ohne daß dabei
    der ökonomische Gesichtspunkt, die Rücksicht auf Lust-
    gewinn, in den Vordergrund gerückt würde. Ich habe, ohne
    das Ganze dieser Erscheinungen umfassen zu wollen, eine
    Gelegenheit ausgenützt, die sich mir bot, um das erste selbst-
    geschaffene Spiel eines Knaben im Alter von 1½ Jahren
    aufzuklären. Es war mehr als eine flüchtige Beobachtung,
    denn ich lebte durch einige Wochen mit dem Kinde und
    dessen Eltern unter einem Dach, und es dauerte ziemlich
    lange, bis das rätselhafte und andauernd wiederholte Tun
    mir seinen Sinn verriet.

    Das Kind war in seiner intellektuellen Entwicklung keines-
    wegs voreilig, es sprach mit 1½ Jahren erst wenige ver-
    ständliche Worte und verfügte außerdem über mehrere
    bedeutungsvolle Laute, die von der Umgebung verstanden
    wurden. Aber es war in gutem Rapport mit den Eltern und
    dem einzigen Dienstmädchen und wurde wegen seines „an-
    ständigen“ Charakters gelobt. Es störte die Eltern nicht zur
    Nachtzeit, befolgte gewissenhaft die Verbote, manche Gegenstände 

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    zu berühren und in gewisse Räume zu gehen, und
    vor allem anderen, es weinte nie, wenn die Mutter es für
    Stunden verließ, obwohl es dieser Mutter zärtlich anhing,
    die das Kind nicht nur selbst genährt, sondern auch ohne
    jede fremde Beihilfe gepflegt und betreut hatte. Dieses brave
    Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle
    kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde, weit weg von
    sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw. zu schleudern,
    so daß das Zusammensuchen seines Spielzeuges oft keine
    leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von
    Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes
    o‑o‑o‑o hervor, das nach dem übereinstimmenden Urteil
    der Mutter und des Beobachters keine Interjektion war, son-
    dern „Fort“ bedeutete. Ich merkte endlich, daß das ein Spiel
    sei, und daß das Kind alle seine Spielsachen nur dazu be-
    nütze, mit ihnen „fortsein“ zu spielen. Eines Tages machte
    ich dann die Beobachtung, die meine Auffassung bestätigte.
    Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden
    umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am
    Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen,
    sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem
    Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so
    daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles
    o‑o‑o‑o und zog dann die Spule am Faden wieder aus
    dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit
    einem freudigen „Da“. Das war also das komplette Spiel,
    Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur
    den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich
    allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere
    Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing3.

    3) Diese Deutung wurde dann durch eine weitere Beobachtung
    völlig gesichert. Als eines Tages die Mutter über viele Stunden
    abwesend gewesen war, wurde sie beim Wiederkommen mit der

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    Die Deutung des Spieles lag dann nahe. Es war im Zu-
    sammenhang mit der großen kulturellen Leistung des Kin-
    des, mit dem von ihm zustande gebrachten Triebverzicht
    (Verzicht auf Triebbefriedigung), das Fortgehen der Mutter
    ohne Sträuben zu gestatten. Es entschädigte sich gleichsam
    dafür, indem es dasselbe Verschwinden und Wiederkommen
    mit den ihm erreichbaren Gegenständen selbst in Szene
    setzte. Für die affektive Einschätzung dieses Spieles ist es
    natürlich gleichgültig, ob das Kind es selbst erfunden oder
    sich infolge einer Anregung zu eigen gemacht hatte. Unser
    Interesse wird sich einem anderen Punkte zuwenden. Das
    Fortgehen der Mutter kann dem Kinde unmöglich angenehm
    oder auch nur gleichgültig gewesen sein. Wie stimmt es also
    zum Lustprinzip, daß es dieses ihm peinliche Erlebnis als
    Spiel wiederholt? Man wird vielleicht antworten wollen,
    das Fortgehen müßte als Vorbedingung des erfreulichen
    Wiedererscheinens gespielt werden, im letzteren sei die
    eigentliche Spielabsicht gelegen. Dem würde die Beobachtung
    widersprechen, daß der erste Akt, das Fortgehen, für sich
    allein als Spiel inszeniert wurde, und zwar ungleich häufiger
    als das zum lustvollen Ende fortgeführte Ganze.

    Die Analyse eines solchen einzelnen Falles ergibt keine
    sichere Entscheidung; bei unbefangener Betrachtung gewinnt
    man den Eindruck, daß das Kind das Erlebnis aus einem
    anderen Motiv zum Spiel gemacht hat. Es war dabei passiv,
    wurde vom Erlebnis betroffen und bringt sich nun in eine
    aktive Rolle, indem es dasselbe, trotzdem es unlustvoll war,
    als Spiel wiederholt. Dieses Bestreben könnte man einem

    Mitteilung begrüßt: Bebi o‑o‑o‑o!, die zunächst unverständ-
    lich blieb. Es ergab sich aber bald, daß das Kind während dieses
    langen Alleinseins ein Mittel gefunden hatte, sich selbst ver-
    schwinden zu lassen. Es hatte sein Bild in dem fast bis zum Boden
    reichenden Standspiegel entdeckt und sich dann niedergekauert,
    so daß das Spiegelbild „fort“ war.

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    Bemächtigungstrieb zurechnen, der sich davon unabhängig
    macht, ob die Erinnerung an sich lustvoll war oder nicht.
    Man kann aber auch eine andere Deutung versuchen. Das
    Wegwerfen des Gegenstandes, so daß er fort ist, könnte die
    Befriedigung eines im Leben unterdrückten Racheimpulses
    gegen die Mutter sein, weil sie vom Kinde fortgegangen ist,
    und dann die trotzige Bedeutung haben: Ja, geh’ nur fort,
    ich brauch’ dich nicht, ich schick’ dich selber weg. Dasselbe
    Kind, das ich mit 1½ Jahren bei seinem ersten Spiel beob-
    achtete, pflegte ein Jahr später ein Spielzeug, über das es
    sich geärgert hatte, auf den Boden zu werfen und dabei zu
    sagen: Geh’ in K(r)ieg! Man hatte ihm damals erzählt, der
    abwesende Vater befinde sich im Krieg, und es vermißte
    den Vater gar nicht, sondern gab die deutlichsten Anzeichen
    von sich, daß es im Alleinbesitz der Mutter nicht gestört
    werden wolle4. Wir wissen auch von anderen Kindern, daß
    sie ähnliche feindselige Regungen durch das Wegschleudern
    von Gegenständen an Stelle der Personen auszudrücken ver-
    mögen5. Man gerät so in Zweifel, ob der Drang, etwas
    Eindrucksvolles psychisch zu verarbeiten, sich seiner voll zu
    bemächtigen, sich primär und unabhängig vom Lustprinzip
    äußern kann. Im hier diskutierten Falle könnte er einen
    unangenehmen Eindruck doch nur darum im Spiel wieder-
    holen, weil mit dieser Wiederholung ein andersartiger, aber
    direkter Lustgewinn verbunden ist.

    Auch die weitere Verfolgung des Kinderspieles hilft die-
    sem unserem Schwanken zwischen zwei Auffassungen nicht
    ab. Man sieht, daß die Kinder alles im Spiele wiederholen,

    4) Als das Kind fünfdreiviertel Jahre alt war, starb die Mutter.
    Jetzt, da sie wirklich „fort“ (o‑o‑o) war, zeigte der Knabe
    keine Trauer um sie. Allerdings war inzwischen ein zweites Kind
    geboren worden, das seine stärkste Eifersucht erweckt hatte.

    5) Vgl. Eine Kindheitserinnerung aus „Dichtung und Wahr-
    heit“. Imago, V, 1917. (Ges. Schriften, Bd. X.)

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    was ihnen im Leben großen Eindruck gemacht hat, daß sie
    dabei die Stärke des Eindruckes abreagieren und sich sozu-
    sagen zu Herren der Situation machen. Aber anderseits ist
    es klar genug, daß all ihr Spielen unter dem Einflusse des
    Wunsches steht, der diese ihre Zeit dominiert, des Wunsches:
    groß zu sein und so tun zu können wie die Großen. Man
    macht auch die Beobachtung, daß der Unlustcharakter des
    Erlebnisses es nicht immer für das Spiel unbrauchbar macht.
    Wenn der Doktor dem Kinde in den Hals geschaut oder
    eine kleine Operation an ihm ausgeführt hat, so wird dies
    erschreckende Erlebnis ganz gewiß zum Inhalt des nächsten
    Spieles werden, aber der Lustgewinn aus anderer Quelle ist
    dabei nicht zu übersehen. Indem das Kind aus der Passivität
    des Erlebens in die Aktivität des Spielens übergeht, fügt es
    einem Spielgefährten das Unangenehme zu, das ihm selbst
    widerfahren war, und rächt sich so an der Person dieses
    Stellvertreters.

    Aus diesen Erörterungen geht immerhin hervor, daß die
    Annahme eines besonderen Nachahmungstriebes als Motiv
    des Spielens überflüssig ist. Schließen wir noch die Mahnun-
    gen an, daß das künstlerische Spielen und Nachahmen der
    Erwachsenen, das zum Unterschied vom Verhalten des
    Kindes auf die Person des Zuschauers zielt, diesem die
    schmerzlichsten Eindrücke zum Beispiel in der Tragödie
    nicht erspart und doch von ihm als hoher Genuß empfun-
    den werden kann. Wir werden so davon überzeugt, daß es
    auch unter der Herrschaft des Lustprinzips Mittel und Wege
    genug gibt, um das an sich Unlustvolle zum Gegenstand der
    Erinnerung und seelischen Bearbeitung zu machen. Mag sich
    mit diesen, in endlichen Lustgewinn auslaufenden Fällen und
    Situationen eine ökonomisch gerichtete Ästhetik befassen;
    für unsere Absichten leisten sie nichts, denn sie setzen
    Existenz und Herrschaft des Lustprinzips voraus und zeugen

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    nicht für die Wirksamkeit von Tendenzen jenseits des Lust-
    prinzips, das heißt solcher, die ursprünglicher als dies und
    von ihm unabhängig wären.

    III

    Fünfundzwanzig Jahre intensiver Arbeit haben es mit sich
    gebracht, daß die nächsten Ziele der psychoanalytischen
    Technik heute ganz andere sind als zu Anfang. Zuerst
    konnte der analysierende Arzt nichts anderes anstreben, als
    das dem Kranken verborgene Unbewußte zu erraten, zu-
    sammenzusetzen und zur rechten Zeit mitzuteilen. Die
    Psychoanalyse war vor allem eine Deutungskunst. Da die
    therapeutische Aufgabe dadurch nicht gelöst war, trat so-
    fort die nächste Absicht auf, den Kranken zur Bestätigung
    der Konstruktion durch seine eigene Erinnerung zu nötigen.
    Bei diesem Bemühen fiel das Hauptgewicht auf die Wider-
    stände des Kranken; die Kunst war jetzt, diese baldigst
    aufzudecken, dem Kranken zu zeigen und ihn durch
    menschliche Beeinflussung (hier die Stelle für die als „Über-
    tragung“ wirkende Suggestion) zum Aufgeben der Wider-
    stände zu bewegen.

    Dann aber wurde es immer deutlicher, daß das gesteckte
    Ziel, die Bewußtwerdung des Unbewußten, auch auf diesem
    Wege nicht voll erreichbar ist. Der Kranke kann von dem
    in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade
    das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung
    von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er
    ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Er-
    lebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es
    lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern6.

    6) S. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse. II.
    Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. (Ges. Schriften, Bd. VI.)

  • S.

    192

    Diese mit unerwünschter Treue auftretende Reproduktion
    hat immer ein Stück des infantilen Sexuallebens, also des
    Ödipuskomplexes und seiner Ausläufer, zum Inhalt und
    spielt sich regelmäßig auf dem Gebiete der Übertragung, das
    heißt der Beziehung zum Arzt ab. Hat man es in der Be-
    handlung so weit gebracht, so kann man sagen, die frühere
    Neurose sei nun durch eine frische Übertragungsneurose er-
    setzt. Der Arzt hat sich bemüht, den Bereich dieser Über-
    tragungsneurose möglichst einzuschränken, möglichst viel in
    die Erinnerung zu drängen und möglichst wenig zur Wieder-
    holung zuzulassen. Das Verhältnis, das sich zwischen Er-
    innerung und Reproduktion herstellt, ist für jeden Fall ein
    anderes. In der Regel kann der Arzt dem Analysierten diese
    Phase der Kur nicht ersparen; er muß ihn ein gewisses
    Stück seines vergessenen Lebens wiedererleben lassen und hat
    dafür zu sorgen, daß ein Maß von Überlegenheit erhalten
    bleibt, kraft dessen die anscheinende Realität doch immer
    wieder als Spiegelung einer vergessenen Vergangenheit er-
    kannt wird. Gelingt dies, so ist die Überzeugung des Kran-
    ken und der von ihr abhängige therapeutische Erfolg ge-
    wonnen.

    Um diesen „Wiederholungszwang“, der sich
    während der psychoanalytischen Behandlung der Neurotiker
    äußert, begreiflicher zu finden, muß man sich vor allem von
    dem Irrtum frei machen, man habe es bei der Bekämpfung
    der Widerstände mit dem Widerstand des „Unbewußten“
    zu tun. Das Unbewußte, das heißt das „Verdrängte“, leistet
    den Bemühungen der Kur überhaupt keinen Widerstand, es
    strebt ja selbst nichts anderes an, als gegen den auf ihm
    lastenden Druck zum Bewußtsein oder zur Abfuhr durch
    die reale Tat durchzudringen. Der Widerstand in der Kur
    geht von denselben höheren Schichten und Systemen des
    Seelenlebens aus, die seinerzeit die Verdrängung durchgeführt 

  • S.

    193

    haben. Da aber die Motive der Widerstände, ja diese
    selbst erfahrungsgemäß in der Kur zunächst unbewußt sind,
    werden wir gemahnt, eine Unzweckmäßigkeit unserer Aus-
    drucksweise zu verbessern. Wir entgehen der Unklarheit,
    wenn wir nicht das Bewußte und das Unbewußte, sondern
    das zusammenhängende Ich und das Verdrängte in
    Gegensatz zueinander bringen. Vieles am Ich ist sicherlich
    selbst unbewußt, gerade das, was man den Kern des Ichs
    nennen darf; nur einen geringen Teil davon decken wir mit
    dem Namen des Vorbewußten. Nach dieser Ersetzung
    einer bloß deskriptiven Ausdrucksweise durch eine syste-
    matische oder dynamische können wir sagen, der Wider-
    stand der Analysierten gehe von ihrem Ich aus, und dann
    erfassen wir sofort, der Wiederholungszwang ist dem un-
    bewußten Verdrängten zuzuschreiben. Er konnte sich wahr-
    scheinlich nicht eher äußern, als bis die entgegenkommende
    Arbeit der Kur die Verdrängung gelockert hatte7.

    Es ist kein Zweifel, daß der Widerstand des bewußten und
    vorbewußten Ichs im Dienste des Lustprinzips steht, er will
    ja die Unlust ersparen, die durch das Freiwerden des Ver-
    drängten erregt würde, und unsere Bemühung geht dahin,
    solcher Unlust unter Berufung auf das Realitätsprinzip Zu-
    lassung zu erwirken. In welcher Beziehung zum Lustprinzip
    steht aber der Wiederholungszwang, die Kraftäußerung des
    Verdrängten? Es ist klar, daß das meiste, was der Wieder-
    holungszwang wiedererleben läßt, dem Ich Unlust bringen
    muß, denn er fördert ja Leistungen verdrängter Triebregun-
    gen zutage, aber das ist Unlust, die wir schon gewürdigt
    haben, die dem Lustprinzip nicht widerspricht, Unlust für

    7) Ich setze an anderer Stelle auseinander, daß es die
    „Suggestionswirkung“ der Kur ist, welche hier dem Wieder-
    holungszwang zu Hilfe kommt, also die tief im unbewußten
    Elternkomplex begründete Gefügigkeit gegen den Arzt.

  • S.

    194

    das eine System und gleichzeitig Befriedigung für das andere.
    Die neue und merkwürdige Tatsache aber, die wir jetzt zu
    beschreiben haben, ist, daß der Wiederholungszwang auch
    solche Erlebnisse der Vergangenheit wiederbringt, die keine
    Lustmöglichkeit enthalten, die auch damals nicht Befriedi-
    gungen, selbst nicht von seither verdrängten Triebregungen,
    gewesen sein können.

    Die Frühblüte des infantilen Sexuallebens war infolge der
    Unverträglichkeit ihrer Wünsche mit der Realität und der
    Unzulänglichkeit der kindlichen Entwicklungsstufe zum
    Untergang bestimmt. Sie ging bei den peinlichsten Anlässen
    unter tief schmerzlichen Empfindungen zugrunde. Der
    Liebesverlust und das Mißlingen hinterließen eine dauernde
    Beeinträchtigung des Selbstgefühls als narzißtische Narbe,
    nach meinen Erfahrungen wie nach den Ausführungen
    Marcinowskis8 den stärksten Beitrag zu dem häufigen
    „Minderwertigkeitsgefühl“ der Neurotiker. Die Sexual-
    forschung, der durch die körperliche Entwicklung des Kin-
    des Schranken gesetzt werden, brachte es zu keinem be-
    friedigenden Abschluß; daher die spätere Klage: Ich kann
    nichts fertig bringen, mir kann nichts gelingen. Die zärt-
    liche Bindung, meist an den gegengeschlechtlichen Elternteil,
    erlag der Enttäuschung, dem vergeblichen Warten auf Be-
    friedigung, der Eifersucht bei der Geburt eines neuen Kin-
    des, die unzweideutig die Untreue des oder der Geliebten
    erwies; der eigene mit tragischem Ernst unternommene Ver-
    such, selbst ein solches Kind zu schaffen, mißlang in be-
    schämender Weise; die Abnahme der dem Kleinen gespen-
    deten Zärtlichkeit, der gesteigerte Anspruch der Erziehung,
    ernste Worte und eine gelegentliche Bestrafung hatten end-
    lich den ganzen Umfang der ihm zugefallenen Verschmähung 

    8) Marcinowski, Die erotischen Quellen der Minder-
    wertigkeitsgefühle. Zeitschrift für Sexualwissenschaft, IV. 1918.

  • S.

    195

    enthüllt. Es gibt hier einige wenige Typen,
    die regelmäßig wiederkehren, wie der typischen Liebe dieser
    Kinderzeit ein Ende gesetzt wird.

    Alle diese unerwünschten Anlässe und schmerzlichen
    Affektlagen werden nun vom Neurotiker in der Über-
    tragung wiederholt und mit großem Geschick neu belebt.
    Sie streben den Abbruch der unvollendeten Kur an, sie
    wissen sich den Eindruck der Verschmähung wieder zu ver-
    schaffen, den Arzt zu harten Worten und kühlem Benehmen
    gegen sie zu nötigen, sie finden die geeigneten Objekte für
    ihre Eifersucht, sie ersetzen das heiß begehrte Kind der
    Urzeit durch den Vorsatz oder das Versprechen eines großen
    Geschenkes, das meist ebensowenig real wird wie jenes.
    Nichts von alledem konnte damals lustbringend sein; man
    sollte meinen, es müßte heute die geringere Unlust bringen,
    wenn es als Erinnerung oder in Träumen auftauchte, als
    wenn es sich zu neuem Erlebnis gestaltete. Es handelt sich
    natürlich um die Aktion von Trieben, die zur Befriedigung
    führen sollten, allein die Erfahrung, daß sie anstatt dessen
    auch damals nur Unlust brachten, hat nichts gefruchtet. Sie
    wird trotzdem wiederholt; ein Zwang drängt dazu.

    Dasselbe, was die Psychoanalyse an den Übertragungs-
    phänomenen der Neurotiker aufzeigt, kann man auch im
    Leben nicht neurotischer Personen wiederfinden. Es macht
    bei diesen den Eindruck eines sie verfolgenden Schicksals,
    eines dämonischen Zuges in ihrem Erleben, und die Psycho-
    analyse hat vom Anfang an solches Schicksal für zum großen
    Teil selbst bereitet und durch frühinfantile Einflüsse deter-
    miniert gehalten. Der Zwang, der sich dabei äußert, ist vom
    Wiederholungszwang der Neurotiker nicht verschieden,
    wenngleich diese Personen niemals die Zeichen eines durch
    Symptombildung erledigten neurotischen Konflikts geboten
    haben. So kennt man Personen, bei denen jede menschliche

  • S.

    196

    Beziehung den gleichen Ausgang nimmt: Wohltäter, die von
    jedem ihrer Schützlinge nach einiger Zeit im Groll verlassen
    werden, so verschieden diese sonst auch sein mögen, denen
    also bestimmt scheint, alle Bitterkeit des Undankes auszu-
    kosten; Männer, bei denen jede Freundschaft den Ausgang
    nimmt, daß der Freund sie verrät; andere, die es unbe-
    stimmt oft in ihrem Leben wiederholen, eine andere Person
    zur großen Autorität für sich oder auch für die Öffentlich-
    keit zu erheben, und diese Autorität dann nach abgemesse-
    ner Zeit selbst stürzen, um sie durch eine neue zu ersetzen;
    Liebende, bei denen jedes zärtliche Verhältnis zum Weibe
    dieselben Phasen durchmacht und zum gleichen Ende führt
    usw. Wir verwundern uns über diese „ewige Wiederkehr
    des Gleichen
    “ nur wenig, wenn es sich um ein aktives Ver-
    halten des Betreffenden handelt, und wenn wir den sich
    gleichbleibenden Charakterzug seines Wesens auffinden, der
    sich in der Wiederholung der nämlichen Erlebnisse äußern
    muß. Weit stärker wirken jene Fälle auf uns, bei denen die
    Person etwas passiv zu erleben scheint, worauf ihr ein Ein-
    fluß nicht zusteht, während sie doch immer nur die Wieder-
    holung desselben Schicksals erlebt. Man denke zum Beispiel
    an die Geschichte jener Frau, die dreimal nacheinander
    Männer heiratete, die nach kurzer Zeit erkrankten und von
    ihr zu Tode gepflegt werden mußten9. Die ergreifendste
    poetische Darstellung eines solchen Schicksalszuges hat
    Tasso im romantischen Epos „Gerusalemme liberata“ ge-
    geben. Held Tankred hat unwissentlich die von ihm geliebte
    Clorinda getötet, als sie in der Rüstung eines feindlichen
    Ritters mit ihm kämpfte. Nach ihrem Begräbnis dringt er in
    den unheimlichen Zauberwald ein, der das Heer der Kreuzfahrer 

    9) Vgl. hiezu die treffenden Bemerkungen in dem Aufsatz von
    C. G. Jung. Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des
    Einzelnen. Jahrbuch für Psychoanalyse. I. 1909.

  • S.

    197

    schreckt. Dort zerhaut er einen hohen Baum mit
    seinem Schwerte, aber aus der Wunde des Baumes strömt
    Blut und die Stimme Clorindas, deren Seele in diesem Baum
    gebannt war, klagt ihn an, daß er wiederum die Geliebte
    geschädigt habe.

    Angesichts solcher Beobachtungen aus dem Verhalten in
    der Übertragung und aus dem Schicksal der Menschen wer-
    den wir den Mut zur Annahme finden, daß es im Seelen-
    leben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich
    über das Lustprinzip hinaussetzt. Wir werden auch jetzt
    geneigt sein, die Träume der Unfallsneurotiker und den
    Antrieb zum Spiel des Kindes auf diesen Zwang zu be-
    ziehen. Allerdings müssen wir uns sagen, daß wir die Wir-
    kungen des Wiederholungszwanges nur in seltenen Fällen
    rein, ohne Mithilfe anderer Motive, erfassen können. Beim
    Kinderspiel haben wir bereits hervorgehoben, welche andere
    Deutungen seine Entstehung zuläßt. Wiederholungszwang
    und direkte lustvolle Triebbefriedigung scheinen sich dabei
    zu intimer Gemeinsamkeit zu verschränken. Die Phänomene
    der Übertragung stehen offenkundig im Dienste des Wider-
    standes von seiten des auf der Verdrängung beharrenden
    Ichs; der Wiederholungszwang, den sich die Kur dienstbar
    machen wollte, wird gleichsam vom Ich, das am Lust-
    prinzip festhalten will, auf seine Seite gezogen. An dem,
    was man den Schicksalszwang nennen könnte, scheint uns
    vieles durch die rationelle Erwägung verständlich, so daß
    man ein Bedürfnis nach der Aufstellung eines neuen ge-
    heimnisvollen Motivs nicht verspürt. Am unverdächtigsten
    ist vielleicht der Fall der Unfallsträume, aber bei näherer
    Überlegung muß man doch zugestehen, daß auch in den
    anderen Beispielen der Sachverhalt durch die Leistung der
    uns bekannten Motive nicht gedeckt wird. Es bleibt genug
    übrig, was die Annahme des Wiederholungszwanges rechtfertigt, 

  • S.

    198

    und dieser erscheint uns ursprünglicher, elementarer,
    triebhafter als das von ihm zur Seite geschobene Lustprinzip.
    Wenn es aber einen solchen Wiederholungszwang im Seeli-
    schen gibt, so möchten wir gerne etwas darüber wissen, wel-
    cher Funktion er entspricht, unter welchen Bedingungen er
    hervortreten kann, und in welcher Beziehung er zum Lust-
    prinzip steht, dem wir doch bisher die Herrschaft über den
    Ablauf der Erregungsvorgänge im Seelenleben zugetraut
    haben.

    IV

    Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Speku-
    lation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung
    würdigen oder vernachlässigen wird. Im weiteren ein Ver-
    such zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neu-
    gierde, wohin dies führen wird.

    Die psychoanalytische Spekulation knüpft an den bei der
    Untersuchung unbewußter Vorgänge empfangenen Eindruck
    an, daß das Bewußtsein nicht der allgemeinste Charakter
    der seelischen Vorgänge, sondern nur eine besondere Funk-
    tion derselben sein könne. In metapsychologischer Aus-
    drucksweise behauptet sie, das Bewußtsein sei die Leistung
    eines besonderen Systems, das sie Bw benennt. Da das Be-
    wußtsein im wesentlichen Wahrnehmungen von Erregungen
    liefert, die aus der Außenwelt kommen, und Empfindungen
    von Lust und Unlust, die nur aus dem Innern des seelischen
    Apparates stammen können, kann dem System W‑Bw eine
    räumliche Stellung zugewiesen werden. Es muß an der
    Grenze von außen und innen liegen, der Außenwelt zuge-
    kehrt sein und die anderen psychischen Systeme umhüllen.
    Wir bemerken dann, daß wir mit diesen Annahmen nichts

  • S.

    199

    Neues gewagt, sondern uns der lokalisierenden Hirn-
    anatomie angeschlossen haben, welche den „Sitz“ des Be-
    wußtseins in die Hirnrinde, in die äußerste, umhüllende
    Schicht des Zentralorgans verlegt. Die Hirnanatomie braucht
    sich keine Gedanken darüber zu machen, warum – anato-
    misch gesprochen – das Bewußtsein gerade an der Ober-
    fläche des Gehirns untergebracht ist, anstatt wohlverwahrt
    irgendwo im innersten Innern desselben zu hausen. Vielleicht
    bringen wir es in der Ableitung einer solchen Lage für unser
    System W‑Bw weiter.

    Das Bewußtsein ist nicht die einzige Eigentümlichkeit, die
    wir den Vorgängen in diesem System zuschreiben. Wir
    stützen uns auf die Eindrücke unserer psychoanalytischen
    Erfahrung, wenn wir annehmen, daß alle Erregungsvor-
    gänge in den anderen Systemen Dauerspuren als Grundlage
    des Gedächtnisses in diesen hinterlassen, Erinnerungsreste
    also, die nichts mit dem Bewußtwerden zu tun haben. Sie
    sind oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurück-
    lassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist.
    Wir finden es aber beschwerlich zu glauben, daß solche
    Dauerspuren der Erregung auch im System W-Bw zustande
    kommen. Sie würden die Eignung des Systems zur Auf-
    nahme neuer Erregungen sehr bald einschränken10, wenn sie
    immer bewußt blieben; im anderen Falle, wenn sie un-
    bewußt würden, stellten sie uns vor die Aufgabe, die
    Existenz unbewußter Vorgänge in einem System zu er-
    klären, dessen Funktionieren sonst vom Phänomen des Be-
    wußtseins begleitet wird. Wir hätten sozusagen durch unsere
    Annahme, welche das Bewußtwerden in ein besonderes
    System verweist, nichts verändert und nichts gewonnen.

    10) Dies durchaus nach J. Breuers Auseinandersetzung im
    theoretischen Abschnitt der „Studien über Hysterie“, 1895.

  • S.

    200

    Wenn dies auch keine absolut verbindliche Erwägung sein
    mag, so kann sie uns doch zur Vermutung bewegen, daß
    Bewußtwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für
    dasselbe System miteinander unverträglich sind. Wir würden
    so sagen können, im System Bw werde der Erregungsvor-
    gang bewußt, hinterlasse aber keine Dauerspur; alle die
    Spuren desselben, auf welche sich die Erinnerung stützt,
    kämen bei der Fortpflanzung der Erregung auf die nächsten
    inneren Systeme in diesen zustande. In diesem Sinne ist
    auch das Schema entworfen, welches ich dem spekulativen
    Abschnitt meiner „Traumdeutung“ 1900 eingefügt habe.
    Wenn man bedenkt, wie wenig wir aus anderen Quellen
    über die Entstehung des Bewußtseins wissen, wird man dem
    Satze, das Bewußtsein entstehe an Stelle
    der Erinnerungsspur
    , wenigstens die Bedeutung
    einer irgendwie bestimmten Behauptung einräumen müssen.

    Das System Bw wäre also durch die Besonderheit ausge-
    zeichnet, daß der Erregungsvorgang in ihm nicht wie in
    allen anderen psychischen Systemen eine dauernde Ver-
    änderung seiner Elemente hinterläßt, sondern gleichsam im
    Phänomen des Bewußtwerdens verpufft. Eine solche Ab-
    weichung von der allgemeinen Regel fordert eine Erklärung
    durch ein Moment, welches ausschließlich bei diesem einen
    System in Betracht kommt, und dies den anderen Systemen
    abzusprechende Moment könnte leicht die exponierte Lage
    des Systems Bw sein, sein unmittelbares Anstoßen an die
    Außenwelt.

    Stellen wir uns den lebenden Organismus in seiner größt-
    möglichen Vereinfachung als undifferenziertes Bläschen reiz-
    barer Substanz vor; dann ist seine der Außenwelt zu-
    gekehrte Oberfläche durch ihre Lage selbst differenziert und
    dient als reizaufnehmendes Organ. Die Embryologie als
    Wiederholung der Entwicklungsgeschichte zeigt auch wirklich, 

  • S.

    201

    daß das Zentralnervensystem aus dem Ektoderm her-
    vorgeht, und die graue Hirnrinde ist noch immer ein Ab-
    kömmling der primitiven Oberfläche und könnte wesentliche
    Eigenschaften derselben durch Erbschaft übernommen haben.
    Es wäre dann leicht denkbar, daß durch unausgesetzten An-
    prall der äußeren Reize an die Oberfläche des Bläschens
    dessen Substanz bis in eine gewisse Tiefe dauernd verändert
    wird, so daß ihr Erregungsvorgang anders abläuft als in
    tieferen Schichten. Es bildete sich so eine Rinde, die end-
    lich durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, daß sie
    der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegen-
    bringt und einer weiteren Modifikation nicht fähig ist. Auf
    das System Bw übertragen, würde dies meinen, daß dessen
    Elemente keine Dauerveränderung beim Durchgang der Er-
    regung mehr annehmen können, weil sie bereits aufs äußerste
    im Sinne dieser Wirkung modifiziert sind. Dann sind sie
    aber befähigt, das Bewußtsein entstehen zu lassen. Worin
    diese Modifikation der Substanz und des Erregungsvorganges
    in ihr besteht, darüber kann man sich mancherlei Vorstel-
    lungen machen, die sich derzeit der Prüfung entziehen. Man
    kann annehmen, die Erregung habe bei ihrem Fortgang von
    einem Element zum anderen einen Widerstand zu überwin-
    den und diese Verringerung des Widerstandes setze eben die
    Dauerspur der Erregung (Bahnung); im System Bw bestünde
    also ein solcher Übergangswiderstand von einem Element
    zum anderen nicht mehr. Man kann mit dieser Vorstellung
    die Breuersche Unterscheidung von ruhender (gebunde-
    ner) und frei beweglicher Besetzungsenergie in den Elemen-
    ten der psychischen Systeme zusammenbringen11; die Ele-
    mente des Systems Bw würden dann keine gebundene und

    11) Studien über Hysterie von J. Breuer und Freud,
    4. unveränderte Auflage, 1922. (Ges. Schriften, Bd. I.)

  • S.

    202

    nur frei abfuhrfähige Energie führen. Aber ich meine, vor-
    läufig ist es besser, wenn man sich über diese Verhältnisse
    möglichst unbestimmt äußert. Immerhin hätten wir durch
    diese Spekulation die Entstehung des Bewußtseins in einen
    gewissen Zusammenhang mit der Lage des Systems Bw und
    den ihm zuzuschreibenden Besonderheiten des Erregungsvor-
    ganges verflochten.

    An dem lebenden Bläschen mit seiner reizaufnehmenden
    Rindenschichte haben wir noch anderes zu erörtern. Dieses
    Stückchen lebender Substanz schwebt inmitten einer mit den
    stärksten Energien geladenen Außenwelt und würde von
    den Reizwirkungen derselben erschlagen werden, wenn es
    nicht mit einem Reizschutz versehen wäre. Es bekommt
    ihn dadurch, daß seine äußerste Oberfläche die dem Leben-
    den zukommende Struktur aufgibt, gewissermaßen anorga-
    nisch wird und nun als eine besondere Hülle oder Membran
    reizabhaltend wirkt, das heißt, veranlaßt, daß die Energien
    der Außenwelt sich nun mit einem Bruchteil ihrer Intensität
    auf die nächsten lebend gebliebenen Schichten fortsetzen
    können. Dieser können nun hinter dem Reizschutz sich der
    Aufnahme der durchgelassenen Reizmengen widmen. Die
    Außenschicht hat aber durch ihr Absterben alle tieferen vor
    dem gleichen Schicksal bewahrt, wenigstens so lange, bis
    nicht Reize von solcher Stärke herankommen, daß sie den
    Reizschutz durchbrechen. Für den lebenden Organismus ist
    der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die
    Reizaufnahme; er ist mit einem eigenen Energievorrat aus-
    gestattet und muß vor allem bestrebt sein, die besonderen
    Formen der Energieumsetzung, die in ihm spielen, vor dem
    gleichmachenden, also zerstörenden Einfluß der übergroßen,
    draußen arbeitenden Energien zu bewahren. Die Reizauf-
    nahme dient vor allem der Absicht, Richtung und Art der
    äußeren Reize zu erfahren und dazu muß es genügen, der

  • S.

    203

    Außenwelt kleine Proben zu entnehmen, sie in geringen
    Quantitäten zu verkosten. Bei den hochentwickelten Orga-
    nismen hat sich die reizaufnehmende Rindenschicht des ein-
    stigen Bläschens längst in die Tiefe des Körperinnern zu-
    rückgezogen, aber Anteile von ihr sind an der Oberfläche
    unmittelbar unter dem allgemeinen Reizschutz zurückge-
    lassen. Dies sind die Sinnesorgane, die im wesentlichen Ein-
    richtungen zur Aufnahme spezifischer Reizeinwirkungen
    enthalten, aber außerdem besondere Vorrichtungen zu neuer-
    lichem Schutz gegen übergroße Reizmengen und zur Ab-
    haltung unangemessener Reizarten. Es ist für sie charakte-
    ristisch, daß sie nur sehr geringe Quantitäten des äußeren
    Reizes verarbeiten, sie nehmen nur Stichproben der Außen-
    welt vor; vielleicht darf man sie Fühlern vergleichen, die
    sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder
    von ihr zurückziehen.

    Ich gestatte mir, an dieser Stelle ein Thema flüchtig zu
    berühren, welches die gründlichste Behandlung verdienen
    würde. Der Kantsche Satz, daß Zeit und Raum notwendige
    Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser
    psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen
    werden. Wir haben erfahren, daß die unbewußten Seelen-
    vorgänge an sich „zeitlos“ sind. Das heißt zunächst, daß sie
    nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts von ihnen
    verändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heran-
    bringen kann. Es sind dies negative Charaktere, die man
    sich nur durch Vergleichung mit den bewußten seelischen
    Prozessen deutlich machen kann. Unsere abstrakte Zeit-
    vorstellung scheint vielmehr durchaus von der Arbeitsweise
    des Systems W‑Bw hergeholt zu sein und einer Selbstwahr-
    nehmung derselben zu entsprechen. Bei dieser Funktionsweise
    des Systems dürfte ein anderer Weg des Reizschutzes be-
    schritten werden. Ich weiß, daß diese Behauptungen sehr

  • S.

    204

    dunkel klingen, muß mich aber auf solche Andeutungen
    beschränken.

    Wir haben bisher ausgeführt, daß das lebende Bläschen
    mit einem Reizschutz gegen die Außenwelt ausgestattet ist.
    Vorhin hatten wir festgelegt, daß die nächste Rindenschicht
    desselben als Organ zur Reizaufnahme von außen differen-
    ziert sein muß. Diese empfindliche Rindenschicht, das spätere
    System Bw, empfängt aber auch Erregungen von innen her;
    die Stellung des Systems zwischen außen und innen und die
    Verschiedenheit der Bedingungen für die Einwirkung von der
    einen und der anderen Seite werden maßgebend für die
    Leistung des Systems und des ganzen seelischen Apparates.
    Gegen außen gibt es einen Reizschutz, die ankommenden
    Erregungsgrößen werden nur in verkleinertem Maßstab wir-
    ken; nach innen zu ist der Reizschutz unmöglich, die Er-
    regungen der tieferen Schichten setzen sich direkt und in
    unverringertem Maße auf das System fort, indem gewisse
    Charaktere ihres Ablaufes die Reihe der Lust‑Unlust-
    empfindungen erzeugen. Allerdings werden die von innen
    kommenden Erregungen nach ihrer Intensität und nach
    anderen qualitativen Charakteren (eventuell nach ihrer
    Amplitude) der Arbeitsweise des Systems adaequater sein
    als die von der Außenwelt zuströmenden Reize. Aber
    zweierlei ist durch diese Verhältnisse entscheidend bestimmt,
    erstens die Praevalenz der Lust‑ und Unlustempfindungen,
    die ein Index für Vorgänge im Innern des Apparates sind,
    über alle äußeren Reize, und zweitens eine Richtung des
    Verhaltens gegen solche innere Erregungen, welche allzu
    große Unlustvermehrung herbeiführen. Es wird sich die
    Neigung ergeben, sie so zu behandeln, als ob sie nicht von
    innen, sondern von außen her einwirkten, um die Abwehr-
    mittel des Reizschutzes gegen sie in Anwendung bringen zu
    können. Dies ist die Herkunft der Projektion, der eine

  • S.

    205

    so große Rolle bei der Verursachung pathologischer Prozesse
    vorbehalten ist.

    Ich habe den Eindruck, daß wir durch die letzten Über-
    legungen die Herrschaft des Lustprinzips unserem Verständ-
    nis angenähert haben; eine Aufklärung jener Fälle, die sich
    ihm widersetzen, haben wir aber nicht erreicht. Gehen wir
    darum einen Schritt weiter. Solche Erregungen von außen,
    die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen
    wir traumatische. Ich glaube, daß der Begriff des
    Traumas eine solche Beziehung auf eine sonst wirksame Reiz-
    abhaltung erfordert. Ein Vorkommnis wie das äußere Trauma
    wird gewiß eine großartige Störung im Energiebetrieb des
    Organismus hervorrufen und alle Abwehrmittel in Bewegung
    setzen. Aber das Lustprinzip ist dabei zunächst außer Kraft
    gesetzt. Die Überschwemmung des seelischen Apparates mit
    großen Reizmengen ist nicht mehr hintanzuhalten; es ergibt
    sich vielmehr eine andere Aufgabe, den Reiz zu bewältigen,
    die hereingebrochenen Reizmengen psychisch zu binden, um
    sie dann der Erledigung zuzuführen.

    Wahrscheinlich ist die spezifische Unlust des körperlichen
    Schmerzes der Erfolg davon, daß der Reizschutz in be-
    schränktem Umfange durchbrochen wurde. Von dieser Stelle
    der Peripherie strömen dann dem seelischen Zentralapparat
    kontinuierliche Erregungen zu, wie sie sonst nur aus dem
    Innern des Apparates kommen konnten12. Und was können
    wir als die Reaktion des Seelenlebens auf diesen Einbruch
    erwarten? Von allen Seiten her wird die Besetzungsenergie
    aufgeboten, um in der Umgebung der Einbruchsstelle ent-
    sprechend hohe Energiebesetzungen zu schaffen. Es wird eine
    großartige „Gegenbesetzung“ hergestellt, zu deren Gunsten
    alle anderen psychischen Systeme verarmen, so daß eine ausgedehnte 

    12) Vgl. Triebe und Triebschicksale. (S. 58 ff dieses Bandes.)

  • S.

    206

    Lähmung oder Herabsetzung der sonstigen psy-
    chischen Leistung erfolgt. Wir suchen aus solchen Beispielen
    zu lernen, unsere metapsychologischen Vermutungen an
    solche Vorbilder anzulehnen. Wir ziehen also aus diesem
    Verhalten den Schluß, daß ein selbst hochbesetztes System
    imstande ist, neu hinzukommende strömende Energie auf-
    zunehmen, sie in ruhende Besetzung umzuwandeln, also sie
    psychisch zu „binden“. Je höher die eigene ruhende Be-
    setzung ist, desto größer wäre auch ihre bindende Kraft;
    umgekehrt also, je niedriger seine Besetzung ist, desto weniger
    wird das System für die Aufnahme zuströmender Energie
    befähigt sein, desto gewaltsamer müssen dann die Folgen
    eines solchen Durchbruches des Reizschutzes sein. Man wird
    gegen diese Auffassung nicht mit Recht einwenden, daß die
    Erhöhung der Besetzung um die Einbruchsstelle sich weit
    einfacher aus der direkten Fortleitung der ankommenden
    Erregungsmengen erkläre. Wenn dem so wäre, so würde der
    seelische Apparat ja nur eine Vermehrung seiner Energie-
    besetzungen erfahren, und der lähmende Charakter des
    Schmerzes, die Verarmung aller anderen Systeme bliebe un-
    aufgeklärt. Auch die sehr heftigen Abfuhrwirkungen des
    Schmerzes stören unsere Erklärung nicht, denn sie gehen
    reflektorisch vor sich, das heißt, sie erfolgen ohne Vermitt-
    lung des seelischen Apparats. Die Unbestimmtheit all unserer
    Erörterungen, die wir metapsychologische heißen, rührt
    natürlich daher, daß wir nichts über die Natur des Er-
    regungsvorganges in den Elementen der psychischen Systeme
    wissen und uns zu keiner Annahme darüber berechtigt fühlen.
    So operieren wir also stets mit einem großen X, welches
    wir in jede neue Formel mit hinübernehmen. Daß dieser
    Vorgang sich mit quantitativ verschiedenen Energien voll-
    zieht, ist eine leicht zulässige Forderung, daß er auch mehr
    als eine Qualität (zum Beispiel in der Art einer Amplitude)

  • S.

    207

    hat, mag uns wahrscheinlich sein; als neu haben wir die
    Aufstellung Breuers in Betracht gezogen, daß es sich um
    zweierlei Formen der Energieerfüllung handelt, so daß eine
    freiströmende, nach Abfuhr drängende, und eine ruhende
    Besetzung der psychischen Systeme (oder ihrer Elemente) zu
    unterscheiden ist. Vielleicht geben wir der Vermutung Raum,
    daß die „Bindung“ der in den seelischen Apparat ein-
    strömenden Energie in einer Überführung aus dem frei
    strömenden in den ruhenden Zustand besteht.

    Ich glaube, man darf den Versuch wagen, die gemeine
    traumatische Neurose als die Folge eines ausgiebigen Durch-
    bruchs des Reizschutzes aufzufassen. Damit wäre die alte,
    naive Lehre vom Schock in ihre Rechte eingesetzt, an-
    scheinend im Gegensatz zu einer späteren und psychologisch
    anspruchsvolleren, welche nicht der mechanischen Gewalt-
    einwirkung, sondern dem Schreck und der Lebensbedrohung
    die ätiologische Bedeutung zuspricht. Allein diese Gegen-
    sätze sind nicht unversöhnlich, und die psychoanalytische
    Auffassung der traumatischen Neurose ist mit der rohesten
    Form der Schocktheorie nicht identisch. Versetzt letztere das
    Wesen des Schocks in die direkte Schädigung der molekularen
    Struktur, oder selbst der histologischen Struktur der nervösen
    Elemente, so suchen wir dessen Wirkung aus der Durch-
    brechung des Reizschutzes für das Seelenorgan und aus den
    daraus sich ergebenden Aufgaben zu verstehen. Der Schreck
    behält seine Bedeutung auch für uns. Seine Bedingung ist das
    Fehlen der Angstbereitschaft, welche die Überbesetzung der
    den Reiz zunächst aufnehmenden Systeme miteinschließt.
    Infolge dieser niedrigeren Besetzung sind die Systeme dann
    nicht gut imstande, die ankommenden Erregungsmengen zu
    binden, die Folgen der Durchbrechung des Reizschutzes stellen
    sich um so vieles leichter ein. Wir finden so, daß die Angst-
    bereitschaft mit der Überbesetzung der aufnehmenden Systeme

  • S.

    208

    die letzte Linie des Reizschutzes darstellt. Für eine ganze
    Anzahl von Traumen mag der Unterschied zwischen den
    unvorbereiteten und den durch Überbesetzung vorbereiteten
    Systemen das für den Ausgang entscheidende Moment sein;
    von einer gewissen Stärke des Traumas an wird er wohl
    nicht mehr ins Gewicht fallen. Wenn die Träume der Unfalls-
    neurotiker die Kranken so regelmäßig in die Situation des
    Unfalles zurückführen, so dienen sie damit allerdings nicht
    der Wunscherfüllung, deren halluzinatorische Herbeiführung
    ihnen unter der Herrschaft des Lustprinzips zur Funktion
    geworden ist. Aber wir dürfen annehmen, daß sie sich
    dadurch einer anderen Aufgabe zur Verfügung stellen, deren
    Lösung vorangehen muß, ehe das Lustprinzip seine Herr-
    schaft beginnen kann. Diese Träume suchen die Reiz-
    bewältigung unter Angstentwicklung nachzuholen, deren
    Unterlassung die Ursache der traumatischen Neurose ge-
    worden ist. Sie geben uns so einen Ausblick auf eine Funktion
    des seelischen Apparats, welche, ohne dem Lustprinzip zu
    widersprechen, doch unabhängig von ihm ist und ursprüng-
    licher scheint als die Absicht des Lustgewinns und der
    Unlustvermeidung.

    Hier wäre also die Stelle, zuerst eine Ausnahme von dem
    Satze, der Traum ist eine Wunscherfüllung, zuzugestehen.
    Die Angstträume sind keine solche Ausnahme, wie ich wieder-
    holt und eingehend gezeigt habe, auch die „Strafträume“
    nicht, denn diese setzen nur an die Stelle der verpönten
    Wunscherfüllung die dafür gebührende Strafe, sind also die
    Wunscherfüllung des auf den verworfenen Trieb reagierenden
    Schuldbewußtseins. Aber die obenerwähnten Träume der
    Unfallsneurotiker lassen sich nicht mehr unter den Gesichts-
    punkt der Wunscherfüllung bringen, und ebensowenig die in
    den Psychoanalysen vorfallenden Träume, die uns die Er-
    innerung der psychischen Traumen der Kindheit wiederbringen. 

  • S.

    209

    Sie gehorchen vielmehr dem Wiederholungszwang,
    der in der Analyse allerdings durch den von der „Suggestion“
    geförderten Wunsch, das Vergessene und Verdrängte herauf-
    zubeschwören, unterstützt wird. So wäre also auch die Funk-
    tion des Traumes, Motive zur Unterbrechung des Schlafes
    durch Wunscherfüllung der störenden Regungen zu beseitigen,
    nicht seine ursprüngliche; er konnte sich ihrer erst bemäch-
    tigen, nachdem das gesamte Seelenleben die Herrschaft des
    Lustprinzips angenommen hatte. Gibt es ein „Jenseits des
    Lustprinzips“, so ist es folgerichtig, auch für die wunsch-
    erfüllende Tendenz des Traumes eine Vorzeit zuzulassen.
    Damit wird seiner späteren Funktion nicht widersprochen.
    Nur erhebt sich, wenn diese Tendenz einmal durchbrochen
    ist, die weitere Frage: Sind solche Träume, welche im Inter-
    esse der psychischen Bindung traumatischer Eindrücke dem
    Wiederholungszwange folgen, nicht auch außerhalb der
    Analyse möglich? Dies ist durchaus zu bejahen.

    Von den „Kriegsneurosen“, soweit diese Bezeichnung mehr
    als die Beziehung zur Veranlassung des Leidens bedeutet,
    habe ich an anderer Stelle ausgeführt, daß sie sehr wohl
    traumatische Neurosen sein könnten, die durch einen Ich-
    konflikt erleichtert worden sind13. Die auf Seite 185 er-
    wähnte Tatsache, daß eine gleichzeitige grobe Verletzung
    durch das Trauma die Chance für die Entstehung einer Neu-
    rose verringert, ist nicht mehr unverständlich, wenn man
    zweier von der psychoanalytischen Forschung betonter Ver-
    hältnisse gedenkt. Erstens, daß mechanische Erschütterung
    als eine der Quellen der Sexualerregung anerkannt werden
    muß (vgl. die Bemerkungen über die Wirkung des Schaukelns
    und Eisenbahnfahrens
    in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 

    13) Zur Psychoanalyse der Kriegsneurosen. Einleitung. Inter-
    nationale Psychoanalytische Bibliothek, Nr. I, 1919. (Ges. Schriften,
    Bd. XI.)

  • S.

    210

    Ges. Schriften, Bd. V), und zweitens, daß dem
    schmerzhaften und fieberhaften Kranksein während seiner
    Dauer ein mächtiger Einfluß auf die Verteilung der Libido
    zukommt. So würde also die mechanische Gewalt des Traumas
    das Quantum Sexualerregung frei machen, welches infolge
    der mangelnden Angstvorbereitung traumatisch wirkt, die
    gleichzeitige Körperverletzung würde aber durch die An-
    spruchnahme einer narzißtischen Überbesetzung des leidenden
    Organs den Überschuß an Erregung binden (siehe „Zur Ein-
    führung des Narzißmus“, S. 25 ff dieses Bandes). Es ist
    auch bekannt, aber für die Libidotheorie nicht genügend
    verwertet worden, daß so schwere Störungen in der Libido-
    verteilung wie die einer Melancholie durch eine interkurrente
    organische Erkrankung zeitweilig aufgehoben werden, ja, daß
    sogar der Zustand einer voll entwickelten Dementia praecox
    unter der nämlichen Bedingung einer vorübergehenden Rück-
    bildung fähig ist.

    V

    Der Mangel eines Reizschutzes für die reizaufnehmende
    Rindenschicht gegen Erregungen von innen her wird die
    Folge haben müssen, daß diese Reizübertragungen die größere
    ökonomische Bedeutung gewinnen und häufig zu ökonomi-
    schen Störungen Anlaß geben, die den traumatischen Neu-
    rosen gleichzustellen sind. Die ausgiebigsten Quellen solch
    innerer Erregung sind die sogenannten Triebe des Organis-
    mus, die Repräsentanten aller aus dem Körperinnern stam-
    menden, auf den seelischen Apparat übertragenen Kraft-
    wirkungen, selbst das wichtigste wie das dunkelste Element
    der psychologischen Forschung.

    Vielleicht finden wir die Annahme nicht zu gewagt, daß
    die von den Trieben ausgehenden Regungen nicht den Typus

  • S.

    211

    des gebundenen, sondern den des frei beweglichen, nach
    Abfuhr drängenden Nervenvorganges einhalten. Das Beste,
    was wir über diese Vorgänge wissen, rührt aus dem Studium
    der Traumarbeit her. Dabei fanden wir, daß die Prozesse
    in den unbewußten Systemen von denen in den (vor‑)be-
    wußten gründlich verschieden sind, daß im Unbewußten
    Besetzungen leicht vollständig übertragen, verschoben, ver-
    dichtet werden können, was nur fehlerhafte Resultate er-
    geben könnte, wenn es an vorbewußtem Material geschähe,
    und was darum auch die bekannten Sonderbarkeiten des
    manifesten Traums ergibt, nachdem die vorbewußten Tages-
    reste die Bearbeitung nach den Gesetzen des Unbewußten
    erfahren haben. Ich nannte die Art dieser Prozesse im Unbe-
    wußten den psychischen „Primärvorgang“ zum Unterschied
    von dem für unser normales Wachleben gültigen Sekundär-
    vorgang. Da die Triebregungen alle an den unbewußten
    Systemen angreifen, ist es kaum eine Neuerung, zu sagen,
    daß sie dem Primärvorgang folgen, und anderseits gehört
    wenig dazu, um den psychischen Primärvorgang mit der frei
    beweglichen Besetzung, den Sekundärvorgang mit den Ver-
    änderungen an der gebundenen oder tonischen Besetzung
    Breuers zu identifizieren14. Es wäre dann die Aufgabe
    der höheren Schichten des seelischen Apparates, die im
    Primärvorgang anlangende Erregung der Triebe zu binden.
    Das Mißglücken dieser Bindung würde eine der traumatischen
    Neurose analoge Störung hervorrufen; erst nach erfolgter
    Bindung könnte sich die Herrschaft des Lustprinzips (und
    seiner Modifikation zum Realitätsprinzip) ungehemmt durch-
    setzen. Bis dahin aber würde die andere Aufgabe des Seelen-
    apparates, die Erregung zu bewältigen oder zu binden, vor-
    anstehen, zwar nicht im Gegensatz zum Lustprinzip, aber

    14) Vgl. den Abschnitt VII, Psychologie der Traumvorgänge in
    meiner „Traumdeutung“. (Ges. Schriften, Bd. II.) 

  • S.

    212

    unabhängig von ihm und zum Teil ohne Rücksicht auf
    dieses.

    Die Äußerungen eines Wiederholungszwanges, die wir an
    den frühen Tätigkeiten des kindlichen Seelenlebens wie an
    den Erlebnissen der psychoanalytischen Kur beschrieben
    haben, zeigen im hohen Grade den triebhaften, und wo sie
    sich im Gegensatz zum Lustprinzip befinden, den dämonischen
    Charakter. Beim Kinderspiel glauben wir es zu begreifen,
    daß das Kind auch das unlustvolle Erlebnis darum wieder-
    holt, weil es sich durch seine Aktivität eine weit gründ-
    lichere Bewältigung des starken Eindruckes erwirbt, als beim
    bloß passiven Erleben möglich war. Jede neuerliche Wieder-
    holung scheint diese angestrebte Beherrschung zu verbessern,
    und auch bei lustvollen Erlebnissen kann sich das Kind an
    Wiederholungen nicht genug tun und wird unerbittlich auf
    der Identität des Eindruckes bestehen. Dieser Charakterzug
    ist dazu bestimmt, späterhin zu verschwinden. Ein  zum
    zweitenmal angehörter Witz wird fast wirkungslos bleiben, 
    eine Theateraufführung wird nie mehr zum zweitenmal den 
    Eindruck erreichen, den sie das erstemal hinterließ; ja, der 
    Erwachsene wird schwer zu bewegen sein, ein Buch, das
    ihm sehr gefallen hat, sobald nochmals durchzulesen. Immer
    wird die Neuheit die Bedingung des Genusses sein. Das Kind
    aber wird nicht müde werden, vom Erwachsenen die Wieder-
    holung eines ihm gezeigten oder mit ihm angestellten Spieles
    zu verlangen, bis dieser erschöpft es verweigert, und wenn
    man ihm eine schöne Geschichte erzählt hat, will es immer
    wieder die nämliche Geschichte, anstatt einer neuen hören,
    besteht unerbittlich auf der Identität der Wiederholung und
    verbessert jede Abänderung, die sich der Erzähler zuschulden
    kommen läßt, mit der er sich vielleicht sogar ein neues Ver-
    dienst erwerben wollte. Dem Lustprinzip wird dabei nicht
    widersprochen; es ist sinnfällig, daß die Wiederholung, das

  • S.

    213

    Wiederfinden der Identität, selbst eine Lustquelle bedeutet.
    Beim Analysierten hingegen wird es klar, daß der Zwang,
    die Begebenheiten seiner infantilen  Lebensperiode in der
    Übertragung zu wiederholen, sich in jeder Weise über
    das Lustprinzip hinaussetzt. Der Kranke benimmt sich dabei 
    völlig wie infantil und zeigt uns so, daß die verdrängten 
    Erinnerungsspuren seiner urzeitlichen Erlebnisse nicht im ge-
    bundenen Zustande in ihm vorhanden, ja gewissermaßen des 
    Sekundärvorganges nicht fähig sind. Dieser Ungebundenheit
    verdanken sie auch ihr Vermögen, durch Anheftung an die
    Tagesreste eine im Traum darzustellende Wunschphantasie
    zu bilden. Derselbe Wiederholungszwang tritt uns so oft als
    therapeutisches Hindernis entgegen, wenn wir zu Ende der
    Kur die völlige Ablösung vom Arzte durchsetzen wollen,
    und es ist anzunehmen, daß die dunkle Angst der mit der
    Analyse nicht Vertrauten, die sich scheuen irgend etwas
    aufzuwecken, was man nach ihrer Meinung besser schlafen
    ließe, im Grunde das Auftreten dieses dämonischen Zwanges 
    fürchtet. 

    Auf welche Art hängt aber das Triebhafte mit dem Zwang 
    zur Wiederholung zusammen? Hier muß sich uns die Idee
    aufdrängen, daß wir einem allgemeinen, bisher nicht klar
    erkannten – oder wenigstens nicht ausdrücklich betonten –
    Charakter der Triebe, vielleicht alles organischen Lebens
    überhaupt, auf die Spur gekommen sind. Ein Trieb
    wäre also ein dem belebten Organischen
    innewohnender Drang zur Wiederher-
    stellung eines früheren Zustandes
    , welchen
    dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte auf-
    geben mußte, eine Art von organischer Elastizität, oder wenn
    man will, die Äußerung der Trägheit im organischen Leben.15

    15) Ich bezweifle nicht, daß ähnliche Vermutungen über die
    Natur der „Triebe“ bereits wiederholt geäußert worden sind. 

  • S.

    214

    Diese Auffassung des Triebes klingt befremdlich, denn
    wir haben uns daran gewöhnt, im Triebe das zur Verände-
    rung und Entwicklung drängende Moment zu sehen, und
    sollen nun das gerade Gegenteil in ihm erkennen, den Aus-
    druck der konservativen Natur des Lebenden. Ander-
    seits fallen uns sehr bald jene Beispiele aus dem Tierleben
    ein, welche die historische Bedingtheit der Triebe zu be-
    stätigen scheinen. Wenn gewisse Fische um die Laichzeit
    beschwerliche Wanderungen unternehmen, um den Laich in
    bestimmten Gewässern, weit entfernt von ihren sonstigen
    Aufenthalten, abzulegen, so haben sie nach der Deutung
    vieler Biologen nur die früheren Wohnstätten ihrer Art aufge-
    sucht, die sie im Laufe der Zeit gegen andere vertauscht
    hatten. Dasselbe soll für die Wanderflüge der Zugvögel
    gelten, aber der Suche nach weiteren Beispielen enthebt uns
    bald die Mahnung, daß wir in den Phänomenen der Erb-
    lichkeit und in den Tatsachen der Embryologie die groß-
    artigsten Beweise für den organischen Wiederholungszwang
    haben. Wir sehen, der Keim eines lebenden Tieres ist ge-
    nötigt, in seiner Entwicklung die Strukturen all der Formen,
    von denen das Tier abstammt – wenn auch in flüchtiger
    Abkürzung – zu wiederholen, anstatt auf dem kürzesten
    Wege zu seiner definitiven Gestaltung zu eilen, und können
    dies Verhalten nur zum geringsten Teile mechanisch er-
    klären, dürfen die historische Erklärung nicht beiseite
    lassen. Und ebenso erstreckt sich weit in die Tierreihe hinauf
    ein Reproduktionsvermögen, welches ein verlorenes Organ
    durch die Neubildung eines ihm durchaus gleichen ersetzt.

    Der naheliegende Einwand, es verhalte sich wohl so, daß
    es außer den konservativen Trieben, die zur Wiederholung
    nötigen, auch andere gibt, die zur Neugestaltung und zum
    Fortschritt drängen, darf gewiß nicht unberücksichtigt
    bleiben; er soll auch späterhin in unsere Erwägungen einbezogen 

  • S.

    215

    werden. Aber vorher mag es uns verlocken, die
    Annahme, daß alle Triebe Früheres wiederherstellen wollen,
    in ihre letzten Konsequenzen zu verfolgen. Mag, was dabei
    herauskommt, den Anschein des „Tiefsinnigen“ erwecken
    oder an Mystisches anklingen, so wissen wir uns doch von
    dem Vorwurf frei, etwas Derartiges angestrebt zu haben.
    Wir suchen nüchterne Resultate der Forschung oder der
    auf sie gegründeten Überlegung, und unser Wunsch möchte 
    diesen keinen anderen Charakter als den der Sicherheit
    verleihen16.

    Wenn also alle organischen Triebe konservativ, historisch
    erworben und auf Regression, Wiederherstellung von
    Früherem, gerichtet sind, so müssen wir die Erfolge der
    organischen Entwicklung auf die Rechnung äußerer,
    störender und ablenkender Einflüsse setzen. Das elementare
    Lebewesen würde sich von seinem Anfang an nicht haben
    ändern wollen, hätte unter sich gleichbleibenden Verhält-
    nissen stets nur den nämlichen Lebenslauf wiederholt. Aber
    im letzten Grunde müßte es die Entwicklungsgeschichte
    unserer Erde und ihres Verhältnisses zur Sonne sein, die
    uns in der Entwicklung der Organismen ihren Abdruck
    hinterlassen hat. Die konservativen organischen Triebe haben
    jede dieser aufgezwungenen Abänderungen des Lebenslaufes
    aufgenommen und zur Wiederholung aufbewahrt und müssen
    so den täuschenden Eindruck von Kräften machen, die nach
    Veränderung und Fortschritt streben, während sie bloß ein
    altes Ziel auf alten und neuen Wegen zu erreichen trachten.
    Auch dieses Endziel alles organischen Strebens ließe sich
    angeben. Der konservativen Natur der Triebe widerspräche

    16) Man möge nicht übersehen, daß das folgende die Entwick-
    lung eines extremen Gedankenganges ist, der späterhin, wenn die
    Sexualtriebe in Betracht gezogen werden, Einschränkung und Be-
    richtigung findet.

  • S.

    216

    es, wenn das Ziel des Lebens ein noch nie zuvor erreichter
    Zustand wäre. Es muß vielmehr ein alter, ein Ausgangs-
    zustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und
    zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt.
    Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen,
    daß alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins An-
    organische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das
    Ziel alles Lebens ist der Tod
    , und zurück-
    greifend: Das Leblose war früher da als das
    Lebende.

    Irgend einmal wurden in unbelebter Materie durch eine
    noch ganz unvorstellbare Krafteinwirkung die Eigenschaften
    des Lebenden erweckt. Vielleicht war es ein Vorgang, vor-
    bildlich ähnlich jenem anderen, der in einer gewissen Schicht
    der lebenden Materie später das Bewußtsein entstehen ließ.
    Die damals entstandene Spannung in dem vorhin unbelebten
    Stoff trachtete darnach sich abzugleichen; es war der erste
    Trieb gegeben, der, zum Leblosen zurückzukehren. Die
    damals lebende Substanz hatte das Sterben noch leicht, es
    war wahrscheinlich nur ein kurzer Lebensweg zu durch-
    laufen, dessen Richtung durch die chemische Struktur des 
    jungen Lebens bestimmt war. Eine lange Zeit hindurch mag
    so die lebende Substanz immer wieder neu geschaffen wor-
    den und leicht gestorben sein, bis sich maßgebende äußere
    Einflüsse so änderten, daß sie die noch überlebende Substanz
    zu immer größeren Ablenkungen vom ursprünglichen Lebens-
    weg und zu immer komplizierteren Umwegen bis zur Er-
    reichung des Todeszieles nötigten. Diese Umwege zum Tode,
    von den konservativen Trieben getreulich festgehalten, böten
    uns heute das Bild der Lebenserscheinungen. Wenn man an
    der ausschließlich konservativen Natur der Triebe festhält,
    kann man zu anderen Vermutungen über Herkunft und Ziel
    des Lebens nicht gelangen.

  • S.

    217

    Ebenso befremdend wie diese Folgerungen klingt dann,
    was sich für die großen Gruppen von Trieben ergibt, die
    wir hinter den Lebenserscheinungen der Organismen
    statuieren. Die Aufstellung der Selbsterhaltungstriebe, die wir 
    jedem lebenden Wesen zugestehen, steht in merkwürdigem
    Gegensatz zur Voraussetzung, daß das gesamte Triebleben
    der Herbeiführung des Todes dient. Die theoretische Bedeu-
    tung der Selbsterhaltungs‑, Macht‑ und Geltungstriebe
    schrumpft, in diesem Licht gesehen, ein; es sind Partial-
    triebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus 
    zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum
    Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das
    rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben
    des Organismus sich aller Welt zum Trotz zu behaupten,
    entfällt. Es erübrigt, daß der Organismus nur auf seine
    Weise sterben will; auch diese Lebenswächter sind ursprüng-
    lich Trabanten des Todes gewesen. Dabei kommt das
    Paradoxe zustande, daß der lebende Organismus sich auf
    das energischeste gegen Einwirkungen (Gefahren) sträubt,
    die ihm dazu verhelfen könnten, sein Lebensziel auf kurzem
    Wege (durch Kurzschluß sozusagen) zu erreichen, aber dies
    Verhalten charakterisiert eben ein rein triebhaftes im Gegen-
    satz zu einem intelligenten Streben.

    Aber besinnen wir uns, dem kann nicht so sein! In ein
    ganz anderes Licht rücken die Sexualtriebe, für welche die
    Neurosenlehre eine Sonderstellung in Anspruch genommen
    hat. Nicht alle Organismen sind dem äußeren Zwang unter-
    legen, der sie zu immer weiter gehender Entwicklung an-
    trieb. Vielen ist es gelungen, sich auf ihrer niedrigen Stufe
    bis auf die Gegenwart zu bewahren; es leben ja noch heute,
    wenn nicht alle, so doch viele Lebewesen, die den Vorstufen
    der höheren Tiere und Pflanzen ähnlich sein müssen. Und
    ebenso machen nicht alle Elementarorganismen, welche den

  • S.

    218

    komplizierten Leib eines höheren Lebewesens zusammen-
    setzen, den ganzen Entwicklungsweg bis zum natürlichen
    Tode mit. Einige unter ihnen, die Keimzellen, bewahren
    wahrscheinlich die ursprüngliche Struktur der lebenden
    Substanz und lösen sich, mit allen ererbten und neu erwor-
    benen Triebanlagen beladen, nach einer gewissen Zeit vom
    ganzen Organismus ab. Vielleicht sind es gerade diese beiden
    Eigenschaften, die ihnen ihre selbständige Existenz ermög-
    lichen. Unter günstige Bedingungen gebracht, beginnen sie
    sich zu entwickeln, das heißt, das Spiel, dem sie ihre Ent-
    stehung verdanken, zu wiederholen, und dies endet damit,
    daß wieder ein Anteil ihrer Substanz die Entwicklung bis
    zum Ende fortführt, während ein anderer als neuer Keim-
    rest von neuem auf den Anfang der Entwicklung zurück-
    greift. So arbeiten diese Keimzellen dem Sterben der lebenden
    Substanz entgegen und wissen für sie zu erringen, was uns
    als potentielle Unsterblichkeit erscheinen muß, wenn-
    gleich es vielleicht nur eine Verlängerung des Todesweges
    bedeutet. Im höchsten Grade bedeutungsvoll ist uns die Tat-
    sache, daß die Keimzelle für diese Leistung durch die Ver-
    schmelzung mit einer anderen, ihr ähnlichen und doch von
    ihr verschiedenen, gekräftigt oder überhaupt erst befähigt
    wird.

    Die Triebe, welche die Schicksale dieser das Einzelwesen
    überlebenden Elementarorganismen in acht nehmen, für ihre
    sichere Unterbringung sorgen, solange sie wehrlos gegen die
    Reize der Außenwelt sind, ihr Zusammentreffen mit den
    anderen Keimzellen herbeiführen usw., bilden die Gruppe
    der Sexualtriebe. Sie sind in demselben Sinne konservativ
    wie die anderen, indem sie frühere Zustände der lebenden
    Substanz wiederbringen, aber sie sind es in stärkerem Maße,
    indem sie sich als besonders resistent gegen äußere Einwir-
    kungen erweisen, und dann noch in einem weiteren Sinne,

  • S.

    219

    da sie das Leben selbst für längere Zeiten erhalten.17 Sie
    sind die eigentlichen Lebenstriebe; dadurch, daß sie der
    Absicht der anderen Triebe, welche durch die Funktion zum
    Tode führt, entgegenwirken, deutet sich ein Gegensatz 
    zwischen ihnen und den übrigen an, den die Neurosenlehre 
    frühzeitig als bedeutungsvoll erkannt hat. Es ist wie ein
    Zauderrhythmus im Leben der Organismen; die eine Trieb-
    gruppe stürmt nach vorwärts, um das Endziel des Lebens
    möglichst bald zu erreichen, die andere schnellt an einer
    gewissen Stelle dieses Weges zurück, um ihn von einem
    bestimmten Punkt an nochmals zu machen und so die Dauer
    des Weges zu verlängern. Aber wenn auch Sexualität und
    Unterschied der Geschlechter zu Beginn des Lebens gewiß
    nicht vorhanden waren, so bleibt es doch möglich, daß die
    später als sexuell zu bezeichnenden Triebe von allem Anfang
    an in Tätigkeit getreten sind und ihre Gegenarbeit gegen
    das Spiel der „Ichtriebe“ nicht erst zu einem späteren Zeit-
    punkte aufgenommen haben.18

    Greifen wir nun selbst ein erstes Mal zurück, um zu
    fragen, ob nicht alle diese Spekulationen der Begründung
    entbehren. Gibt es wirklich, abgesehen von den
    Sexualtrieben
    , keine anderen Triebe als solche, die
    einen früheren Zustand wiederherstellen wollen, nicht auch
    andere, die nach einem noch nie erreichten streben? Ich
    weiß in der organischen Welt kein sicheres Beispiel, das
    unserer vorgeschlagenen Charakteristik widerspräche. Ein
    allgemeiner Trieb zur Höherentwicklung in der Tier‑ und
    Pflanzenwelt läßt sich gewiß nicht feststellen, wenn auch 

    17) Und doch sind sie es, die wir allein für eine innere Tendenz 
    zum „Fortschritt“ und zur Höherentwicklung in Anspruch nehmen
    können! (S. u.)

    18) Es sollte aus dem Zusammenhange verstanden werden, daß
    „Ichtriebe“ hier als eine vorläufige Bezeichnung gemeint sind,
    welche an die erste Namengebung der Psychoanalyse anknüpft.

  • S.

    220

    eine solche Entwicklungsrichtung tatsächlich unbestritten
    bleibt. Aber einerseits ist es vielfach nur Sache unserer Ein-
    schätzung, wenn wir eine Entwicklungsstufe für höher als
    eine andere erklären, und anderseits zeigt uns die Wissen-
    schaft des Lebenden, daß Höherentwicklung in einem Punkte
    sehr häufig durch Rückbildung in einem anderen erkauft
    oder wettgemacht wird. Auch gibt es Tierformen genug,
    deren Jugendzustände uns erkennen lassen, daß ihre Ent-
    wicklung vielmehr einen rückschreitenden Charakter ge-
    nommen hat. Höherentwicklung wie Rückbildung könnten
    beide Folgen der zur Anpassung drängenden äußeren Kräfte
    sein und die Rolle der Triebe könnte sich für beide Fälle
    darauf beschränken, die aufgezwungene Veränderung als
    innere Lustquelle festzuhalten19.

    Vielen von uns mag es auch schwer werden, auf den
    Glauben zu verzichten, daß im Menschen selbst ein Trieb
    zur Vervollkommnung wohnt, der ihn auf seine gegenwärtige
    Höhe geistiger Leistung und ethischer Sublimierung gebracht
    hat, und von dem man erwarten darf, daß er seine Ent-
    wicklung zum Übermenschen besorgen wird. Allein ich
    glaube nicht an einen solchen inneren Trieb und sehe keinen
    Weg, diese wohltuende Illusion zu schonen. Die bisherige
    Entwicklung des Menschen scheint mir keiner anderen Er-
    klärung zu bedürfen als die der Tiere, und was man an
    einer Minderzahl von menschlichen Individuen als rastlosen
    Drang zu weiterer Vervollkommnung beobachtet, läßt sich

    19) Auf anderem Wege ist Ferenczi zur Möglichkeit der-
    selben Auffassung gelangt (Entwicklungsstufen des Wirklichkeits-
    sinnes, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, I, 1913): „Bei
    konsequenter Durchführung dieses Gedankenganges muß man sich
    mit der Idee einer auch das organische Leben beherrschenden
    Beharrungs‑, respektive Regressionstendenz vertraut machen,
    während die Tendenz nach Fortentwicklung, Anpassung usw. nur 
    auf äußere Reize hin lebendig wird
    .“ (S. 137.)

  • S.

    221

    ungezwungen als Folge der Triebverdrängung verstehen, auf
    welche das Wertvollste an der menschlichen Kultur auf-
    gebaut ist. Der verdrängte Trieb gibt es nie auf, nach seiner
    vollen Befriedigung zu streben, die in der Wiederholung
    eines primären Befriedigungserlebnisses bestünde; alle Ersatz‑,
    Reaktionsbildungen und Sublimierungen sind ungenügend,
    um seine anhaltende Spannung aufzuheben, und aus der
    Differenz zwischen der gefundenen und der geforderten
    Befriedigungslust ergibt sich das treibende Moment, welches
    bei keiner der hergestellten Situationen zu verharren ge-
    stattet, sondern nach des Dichters Worten „ungebändigt
    immer vorwärts dringt
    “ (Mephisto im „Faust“, I, Studier-
    zimmer). Der Weg nach rückwärts, zur vollen Befriedigung,
    ist in der Regel durch die Widerstände, welche die Ver-
    drängungen aufrecht halten, verlegt, und somit bleibt nichts
    anderes übrig, als in der anderen, noch freien Entwicklungs-
    richtung fortzuschreiten, allerdings ohne Aussicht, den Prozeß
    abschließen und das Ziel erreichen zu können. Die Vorgänge
    bei der Ausbildung einer neurotischen Phobie, die ja nichts
    anderes als ein Fluchtversuch vor einer Triebbefriedigung
    ist, geben uns das Vorbild für die Entstehung dieses an-
    scheinenden „Vervollkommnungstriebes“, den wir aber un-
    möglich allen menschlichen Individuen zuschreiben können.
    Die dynamischen Bedingungen dafür sind zwar ganz allge-
    mein vorhanden, aber die ökonomischen Verhältnisse scheinen
    das Phänomen nur in seltenen Fällen zu begünstigen.

    Nur mit einem Wort sei aber auf die Wahrscheinlichkeit
    hingewiesen, daß das Bestreben des Eros, das Organische
    zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen, einen Ersatz
    für den nicht anzuerkennenden „Vervollkommnungstrieb“
    leistet. Im Verein mit den Wirkungen der Verdrängung
    würde es die dem letzteren zugeschriebenen Phänomene
    erklären können.

  • S.

    222

    VI

    Unser bisheriges Ergebnis, welches einen scharfen Gegen-
    satz zwischen den „Ichtrieben“ und den Sexualtrieben auf-
    stellt, die ersteren zum Tode und die letzteren zur Lebens-
    fortsetzung drängen läßt, wird uns gewiß nach vielen Rich-
    tungen selbst nicht befriedigen. Dazu kommt, daß wir eigent-
    lich nur für die ersteren den konservativen oder besser
    regredierenden, einem Wiederholungszwang entsprechenden
    Charakter des Triebes in Anspruch nehmen konnten. Denn
    nach unserer Annahme rühren die Ichtriebe von der Belebung
    der unbelebten Materie her und wollen die Unbelebtheit
    wieder herstellen. Die Sexualtriebe hingegen – es ist augen-
    fällig, daß sie primitive Zustände des Lebewesens repro-
    duzieren, aber ihr mit allen Mitteln angestrebtes Ziel ist die
    Verschmelzung zweier in bestimmter Weise differenzierter
    Keimzellen. Wenn diese Vereinigung nicht zustande kommt,
    dann stirbt die Keimzelle wie alle anderen Elemente des
    vielzelligen Organismus. Nur unter dieser Bedingung kann
    die Geschlechtsfunktion das Leben verlängern und ihm den
    Schein der Unsterblichkeit verleihen. Welches wichtige Er-
    eignis im Entwicklungsgang der lebenden Substanz wird aber
    durch die geschlechtliche Fortpflanzung oder ihren Vorläufer,
    die Kopulation zweier Individuen unter den Protisten,
    wiederholt? Das wissen wir nicht zu sagen, und darum
    würden wir es als Erleichterung empfinden, wenn unser
    ganzer Gedankenaufbau sich als irrtümlich erkennen ließe.
    Der Gegensatz von Ich(Todes‑)trieben und Sexual(Lebens‑)trieben
    würde dann entfallen, damit auch der Wiederholungs-
    zwang die ihm zugeschriebene Bedeutung einbüßen.

    Kehren wir darum zu einer von uns eingeflochtenen An-
    nahme zurück, in der Erwartung, sie werde sich exakt widerlegen 

  • S.

    223

    lassen. Wir haben auf Grund der Voraussetzung weitere
    Schlüsse aufgebaut, daß alles Lebende aus inneren Ursachen
    sterben müsse. Wir haben diese Annahme so sorglos ge-
    macht, weil sie uns nicht als solche erscheint. Wir sind ge-
    wohnt, so zu denken, unsere Dichter bestärken uns darin.
    Vielleicht haben wir uns dazu entschlossen, weil ein Trost
    in diesem Glauben liegt. Wenn man schon selbst sterben
    und vorher seine Liebsten durch den Tod verlieren soll, so
    will man lieber einem unerbittlichen Naturgesetz, der hehren
    ‚Ανάγκη‘ erlegen sein, als einem Zufall, der sich etwa
    noch hätte vermeiden lassen. Aber vielleicht ist dieser Glaube
    an die innere Gesetzmäßigkeit des Sterbens auch nur eine
    der Illusionen, die wir uns geschaffen haben, „um die
    Schwere des Daseins zu ertragen
    “. Ursprünglich ist er sicher-
    lich nicht, den primitiven Völkern ist die Idee eines „natür-
    lichen Todes“ fremd; sie führen jedes Sterben unter ihnen
    auf den Einfluß eines Feindes oder eines bösen Geistes zurück.
    Versäumen wir es darum nicht, uns zur Prüfung dieses
    Glaubens an die biologische Wissenschaft zu wenden.

    Wenn wir so tun, dürfen wir erstaunt sein, wie wenig
    die Biologen in der Frage des natürlichen Todes einig sind,
    ja, daß ihnen der Begriff des Todes überhaupt unter den
    Händen zerrinnt. Die Tatsache einer bestimmten durchschnitt-
    lichen Lebensdauer wenigstens bei höheren Tieren spricht
    natürlich für den Tod aus inneren Ursachen, aber der
    Umstand, daß einzelne große Tiere und riesenhafte Baum-
    gewächse ein sehr hohes und bisher nicht abschätzbares Alter
    erreichen, hebt diesen Eindruck wieder auf. Nach der groß-
    artigen Konzeption von W. Fließ sind alle Lebens-
    erscheinungen – und gewiß auch der Tod – der Organismen
    an die Erfüllung bestimmter Termine gebunden, in denen
    die Abhängigkeit zweier lebenden Substanzen, einer männ-
    lichen und einer weiblichen, vom Sonnenjahr zum Ausdruck

  • S.

    224 

    kommt. Allein die Beobachtungen, wie leicht und bis zu
    welchem Ausmaß es dem Einflusse äußerer Kräfte möglich
    ist, die Lebensäußerungen insbesondere der Pflanzenwelt in
    ihrem zeitlichen Auftreten zu verändern, sie zu verfrühen
    oder hintanzuhalten, sträuben sich gegen die Starrheit der
    Fließschen Formeln und lassen zum mindesten an der
    Alleinherrschaft der von ihm aufgestellten Gesetze zweifeln.

    Das größte Interesse knüpft sich für uns an die Behand-
    lung, welche das Thema von der Lebensdauer und vom
    Tode der Organismen in den Arbeiten von A. Weismann
    gefunden hat20. Von diesem Forscher rührt die Unter-
    scheidung der lebenden Substanz in eine sterbliche und un-
    sterbliche Hälfte her; die sterbliche ist der Körper im
    engeren Sinne, das Soma, sie allein ist dem natürlichen Tode
    unterworfen, die Keimzellen aber sind potentia unsterblich,
    insofern sie imstande sind, unter gewissen günstigen Bedin-
    gungen sich zu einem neuen Individuum zu entwickeln, oder
    anders ausgedrückt, sich mit einem neuen Soma zu um-
    geben21.

    Was uns hieran fesselt, ist die unerwartete Analogie mit
    unserer eigenen, auf so verschiedenem Wege entwickelten
    Auffassung. Weismann, der die lebende Substanz mor-
    phologisch betrachtet, erkennt in ihr einen Bestandteil, der
    dem Tode verfallen ist, das Soma, den Körper abgesehen
    vom Geschlechts‑ und Vererbungsstoff, und einen unsterb-
    lichen, eben dieses Keimplasma, welches der Erhaltung der
    Art, der Fortpflanzung, dient. Wir haben nicht den lebenden
    Stoff, sondern die in ihm tätigen Kräfte eingestellt, und sind
    dazu geführt worden, zwei Arten von Trieben zu unter-
    scheiden, jene, welche das Leben zum Tod führen wollen,

    20) Über die Dauer des Lebens, 1882; Über Leben und Tod, 1892;
    Das Keimplasma, 1892, u. a.

    21) Über Leben und Tod, 2. Aufl. 1892, S. 20.

  • S.

    225

    die anderen, die Sexualtriebe, welche immer wieder die
    Erneuerung des Lebens anstreben und durchsetzen. Das klingt
    wie ein dynamisches Korollar zu Weismanns morpho-
    logischer Theorie.

    Der Anschein einer bedeutsamen Übereinstimmung ver-
    flüchtigt sich alsbald, wenn wir Weismanns Entschei-
    dung über das Problem des Todes vernehmen. Denn Weis-
    mann
    läßt die Sonderung von sterblichem Soma und un-
    sterblichem Keimplasma erst bei den vielzelligen Organismen
    gelten, bei den einzelligen Tieren sind Individuum und Fort-
    pflanzungszelle noch ein‑ und dasselbe22. Die Einzelligen
    erklärt er also für potentiell unsterblich, der Tod tritt erst
    bei den Metazoen, den Vielzelligen, auf. Dieser Tod der
    höheren Lebewesen ist allerdings ein natürlicher, ein Tod
    aus inneren Ursachen, aber er beruht nicht auf einer Ur-
    eigenschaft der lebenden Substanz23, kann nicht als eine
    absolute, im Wesen des Lebens begründete Notwendigkeit
    aufgefaßt werden24. Der Tod ist vielmehr eine Zweckmäßig-
    keitseinrichtung, eine Erscheinung der Anpassung an die
    äußeren Lebensbedingungen, weil von der Sonderung der
    Körperzellen in Soma und Keimplasma an die unbegrenzte
    Lebensdauer des Individuums ein ganz unzweckmäßiger
    Luxus geworden wäre. Mit dem Eintritt dieser Differenzie-
    rung bei den Vielzelligen wurde der Tod möglich und zweck-
    mäßig. Seither stirbt das Soma der höheren Lebewesen aus
    inneren Gründen zu bestimmten Zeiten ab, die Protisten
    aber sind unsterblich geblieben. Die Fortpflanzung hingegen
    ist nicht erst mit dem Tode eingeführt worden, sie ist viel-
    mehr eine Ureigenschaft der lebenden Materie wie das
    Wachstum, aus welchem sie hervorging, und das Leben ist

    22) Dauer des Lebens, S. 38.

    23) Leben und Tod, 2. Aufl., S. 67.

    24) Dauer des Lebens, S. 33.

  • S.

    226

    von seinem Beginn auf Erden an kontinuierlich geblieben25.

    Es ist leicht einzusehen, daß das Zugeständnis eines natür-
    lichen Todes für die höheren Organismen unserer Sache
    wenig hilft. Wenn der Tod eine späte Erwerbung der Lebe-
    wesen ist, dann kommen Todestriebe, die sich vom Beginn
    des Lebens auf Erden ableiten, weiter nicht in Betracht.
    Die Vielzelligen mögen dann immerhin aus inneren Gründen
    sterben, an den Mängeln ihrer Differenzierung oder an den
    Unvollkommenheiten ihres Stoffwechsels; es hat für die
    Frage, die uns beschäftigt, kein Interesse. Eine solche Auf-
    fassung und Ableitung des Todes liegt dem gewohnten Den-
    ken der Menschen auch sicherlich viel näher als die befrem-
    dende Annahme von „Todestrieben“.

    Die Diskussion, die sich an die Aufstellungen von Weis-
    mann
    angeschlossen, hat nach meinem Urteil in keiner
    Richtung Entscheidendes ergeben26. Manche Autoren sind
    zum Standpunkt von Goette zurückgekehrt (1883), der
    in dem Tod die direkte Folge der Fortpflanzung sah. Hart-
    mann
    charakterisiert den Tod nicht durch Auftreten einer
    „Leiche“, eines abgestorbenen Anteiles der lebenden Substanz,
    sondern definiert ihn als den „Abschluß der individuellen
    Entwicklung
    “. In diesem Sinne sind auch die Protozoen
    sterblich, der Tod fällt bei ihnen immer mit der Fort-
    pflanzung zusammen, aber er wird durch diese gewisser-
    maßen verschleiert, indem die ganze Substanz des Eltern-
    tieres direkt in die jungen Kinderindividuen übergeführt
    werden kann (l. c., S. 29).

    Das Interesse der Forschung hat sich bald darauf gerichtet,
    die behauptete Unsterblichkeit der lebenden Substanz an den

    25) Über Leben und Tod, Schluß.

    26) Vgl. Max Hartmann, Tod und Fortpflanzung, 1906.
    Alex. Lipschütz, Warum wir sterben, Kosmosbücher, 1914. 
    Franz Doflein, Das Problem des Todes und der Unsterblich-
    keit bei den Pflanzen und Tieren, 1909.

  • S.

    227

    Einzelligen experimentell zu erproben. Ein Amerikaner,
    Woodruff, hat ein bewimpertes Infusorium, ein „Pan-
    toffeltierchen“, das sich durch Teilung in zwei Individuen
    fortpflanzt, in Zucht genommen und es bis zur 3029sten
    Generation, wo er den Versuch abbrach, verfolgt, indem er
    jedesmal das eine der Teilprodukte isolierte und in frisches
    Wasser brachte. Dieser späte Abkömmling des ersten Pan-
    toffeltierchens war ebenso frisch wie der Urahn, ohne alle
    Zeichen des Alterns oder der Degeneration; somit schien,
    wenn solchen Zahlen bereits Beweiskraft zukommt, die
    Unsterblichkeit der Protisten experimentell erweisbar27.

    Andere Forscher sind zu anderen Resultaten gekommen.
    Maupas, Calkins und andere haben im Gegensatz zu
    Woodruff gefunden, daß auch diese Infusorien nach
    einer gewissen Anzahl von Teilungen schwächer werden, an
    Größe abnehmen, einen Teil ihrer Organisation einbüßen
    und endlich sterben, wenn sie nicht gewisse auffrischende
    Einflüsse erfahren. Demnach stürben die Protozoen nach einer
    Phase des Altersverfalles ganz wie die höheren Tiere, so
    recht im Widerspruch zu den Behauptungen Weismanns,
    der den Tod als eine späte Erwerbung der lebenden Orga-
    nismen anerkennt.

    Aus dem Zusammenhang dieser Untersuchungen heben wir
    zwei Tatsachen heraus, die uns einen festen Anhalt zu bieten
    scheinen. Erstens: Wenn die Tierchen zu einem Zeitpunkt,
    da sie noch keine Altersveränderung zeigen, miteinander zu
    zweit verschmelzen, „kopulieren“ können – worauf sie nach
    einiger Zeit wieder auseinandergehen, – so bleiben sie vom
    Alter verschont, sie sind „verjüngt“ worden. Diese Kopulation
    ist doch wohl der Vorläufer der geschlechtlichen Fort-
    pflanzung höherer Wesen; sie hat mit der Vermehrung noch

    27) Für dies und das Folgende vgl. Lipschütz l. c., S. 26
    und 52 ff.

  • S.

    228

    nichts zu tun, beschränkt sich auf die Vermischung der Sub-
    stanzen beider Individuen (Weismanns Amphimixis).
    Der auffrischende Einfluß der Kopulation kann aber auch
    ersetzt werden durch bestimmte Reizmittel, Veränderungen
    in der Zusammensetzung der Nährflüssigkeit, Temperatur-
    steigerung oder Schütteln. Man erinnert sich an das berühmte
    Experiment von J. Loeb, der Seeigeleier durch gewisse
    chemische Reize zu Teilungsvorgängen zwang, die sonst nur
    nach der Befruchtung auftreten.

    Zweitens: Es ist doch wahrscheinlich, daß die Infusorien
    durch ihren eigenen Lebensprozeß zu einem natürlichen Tod
    geführt werden, denn der Widerspruch zwischen den Er-
    gebnissen von Woodruff und von anderen rührt daher,
    daß Woodruff jede neue Generation in frische Nähr-
    flüssigkeit brachte. Unterließ er dies, so beobachtete er die-
    selben Altersveränderungen der Generationen wie die anderen
    Forscher. Er schloß, daß die Tierchen durch die Produkte
    des Stoffwechsels, die sie an die umgebende Flüssigkeit ab-
    geben, geschädigt werden, und konnte dann überzeugend
    nachweisen, daß nur die Produkte des eigenen Stoff-
    wechsels diese zum Tod der Generation führende Wirkung
    haben. Denn in einer Lösung, die mit den Abfallsprodukten
    einer entfernter verwandten Art übersättigt war, gediehen
    dieselben Tierchen ausgezeichnet, die, in ihrer eigenen Nähr-
    flüssigkeit angehäuft, sicher zugrunde gingen. Das Infusor
    stirbt also, sich selbst überlassen, eines natürlichen Todes an
    der Unvollkommenheit der Beseitigung seiner eigenen Stoff-
    wechselprodukte; aber vielleicht sterben auch alle höheren
    Tiere im Grunde an dem gleichen Unvermögen.

    Es mag uns da der Zweifel anwandeln, ob es überhaupt
    zweckdienlich war, die Entscheidung der Frage nach dem
    natürlichen Tod im Studium der Protozoen zu suchen. Die
    primitive Organisation dieser Lebewesen mag uns wichtige

  • S.

    229

    Verhältnisse verschleiern, die auch bei ihnen statthaben, aber
    erst bei höheren Tieren erkannt werden können, wo sie sich
    einen morphologischen Ausdruck verschafft haben. Wenn wir
    den morphologischen Standpunkt verlassen, um den
    dynamischen einzunehmen, so kann es uns überhaupt gleich-
    gültig sein, ob sich der natürliche Tod der Protozoen er-
    weisen läßt oder nicht. Bei ihnen hat sich die später als
    unsterblich erkannte Substanz von der sterblichen noch in
    keiner Weise gesondert. Die Triebkräfte, die das Leben in
    den Tod überführen wollen, könnten auch in ihnen von
    Anfang an wirksam sein, und doch könnte ihr Effekt durch
    den der lebenserhaltenden Kräfte so gedeckt werden, daß ihr
    direkter Nachweis sehr schwierig wird. Wir haben allerdings
    gehört, daß die Beobachtungen der Biologen uns die An-
    nahme solcher zum Tod führenden inneren Vorgänge auch
    für die Protisten gestatten. Aber selbst wenn die Protisten
    sich als unsterblich im Sinne von Weismann erweisen,
    so gilt seine Behauptung, der Tod sei eine späte Erwerbung,
    nur für die manifesten Äußerungen des Todes und macht
    keine Annahme über die zum Tode drängenden Prozesse
    unmöglich. Unsere Erwartung, die Biologie werde die An-
    erkennung der Todestriebe glatt beseitigen, hat sich nicht
    erfüllt. Wir können uns mit ihrer Möglichkeit weiter be-
    schäftigen, wenn wir sonst Gründe dafür haben. Die auf-
    fällige Ähnlichkeit der Weismannschen Sonderung von
    Soma und Keimplasma mit unserer Scheidung der Todes-
    triebe von den Lebenstrieben bleibt aber bestehen und erhält
    ihren Wert wieder.

    Verweilen wir kurz bei dieser exquisit dualistischen Auf-
    fassung des Trieblebens. Nach der Theorie E. Herings
    von den Vorgängen in der lebenden Substanz laufen in ihr
    unausgesetzt zweierlei Prozesse entgegengesetzter Richtung
    ab, die einen aufbauend – assimilatorisch, die anderen abbauend – 

  • S.

    230

    dissimilatorisch. Sollen wir es wagen, in diesen
    beiden Richtungen der Lebensprozesse die Betätigung unserer
    beiden Triebregungen, der Lebenstriebe und der Todestriebe,
    zu erkennen? Aber etwas anderes können wir uns nicht ver-
    hehlen: daß wir unversehens in den Hafen der Philosophie
    Schopenhauers eingelaufen sind, für den ja der Tod
    „das eigentliche Resultat“ und insofern der Zweck des
    Lebens ist28, der Sexualtrieb aber die Verkörperung des
    Willens zum Leben.

    Versuchen wir kühn, einen Schritt weiter zu gehen. Nach
    allgemeiner Einsicht ist die Vereinigung zahlreicher Zellen
    zu einem Lebensverband, die Vielzelligkeit der Organismen,
    ein Mittel zur Verlängerung ihrer Lebensdauer geworden.
    Eine Zelle hilft dazu, das Leben der anderen zu erhalten,
    und der Zellenstaat kann weiter leben, auch wenn einzelne
    Zellen absterben müssen. Wir haben bereits gehört, daß auch
    die Kopulation, die zeitweilige Verschmelzung zweier Ein-
    zelliger, lebenserhaltend und verjüngend auf beide wirkt.
    Somit könnte man den Versuch machen, die in der Psycho-
    analyse gewonnene Libidotheorie auf das Verhältnis der
    Zellen zu einander zu übertragen und sich vorzustellen, daß
    es die in jeder Zelle tätigen Lebens‑ oder Sexualtriebe sind,
    welche die anderen Zellen zum Objekt nehmen, deren Todes-
    triebe, das ist die von diesen angeregten Prozesse, teilweise
    neutralisieren und sie so am Leben erhalten, während andere
    Zellen dasselbe für sie besorgen und noch andere in der Aus-
    übung dieser libidinösen Funktion sich selbst aufopfern. Die
    Keimzellen selbst würden sich absolut „narzißtisch“ be-
    nehmen, wie wir es in der Neurosenlehre zu bezeichnen ge-
    wohnt sind, wenn ein ganzes Individuum seine Libido im
    Ich behält und nichts von ihr für Objektbesetzungen verausgabt. 

    28) „Über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des
    Einzelnen“, Großherzog Wilhelm Ernst‑Ausgabe, IV. Bd., S. 268.

  • S.

    231

    Die Keimzellen brauchen ihre Libido, die Tätigkeit
    ihrer Lebenstriebe, für sich selbst als Vorrat für ihre spätere,
    großartig aufbauende Tätigkeit. Vielleicht darf man auch
    die Zellen der bösartigen Neugebilde, die den Organismus
    zerstören, für narzißtisch in demselben Sinne erklären. Die
    Pathologie ist ja bereit, ihre Keime für mitgeboren zu halten
    und ihnen embryonale Eigenschaften zuzugestehen. So würde
    also die Libido unserer Sexualtriebe mit dem Eros der Dichter
    und Philosophen zusammenfallen, der alles Lebende zu-
    sammenhält.

    An dieser Stelle finden wir den Anlaß, die langsame Ent-
    wicklung unserer Libidotheorie zu überschauen. Die Analyse
    der Übertragungsneurosen zwang uns zunächst den Gegen-
    satz zwischen „Sexualtrieben“, die auf das Objekt gerichtet
    sind, und anderen Trieben auf, die wir nur sehr ungenügend
    erkannten und vorläufig als „Ichtriebe“ bezeichneten. Unter
    ihnen mußten Triebe, die der Selbsterhaltung des Individuums
    dienen, in erster Linie anerkannt werden. Was für andere
    Unterscheidungen da zu machen waren, konnte man nicht
    wissen. Keine Kenntnis wäre für die Begründung einer rich-
    tigen Psychologie so wichtig gewesen, wie eine ungefähre
    Einsicht in die gemeinsame Natur und die etwaigen Besonder-
    heiten der Triebe. Aber auf keinem Gebiete der Psycho-
    logie tappte man so sehr im Dunkeln. Jedermann stellte so
    viele Triebe oder „Grundtriebe“ auf, als ihm beliebte, und
    wirtschaftete mit ihnen, wie die alten griechischen Natur-
    philosophen mit ihren vier Elementen: dem Wasser, der
    Erde, dem Feuer und der Luft. Die Psychoanalyse, die
    irgend einer Annahme über die Triebe nicht entraten konnte,
    hielt sich vorerst an die populäre Triebunterscheidung, für
    die das Wort von „Hunger und Liebe“ vorbildlich ist. Es
    war wenigstens kein neuer Willkürakt. Damit reichte man
    in der Analyse der Psychoneurosen ein ganzes Stück weit

  • S.

    232

    aus. Der Begriff der „Sexualität“ – und damit der eines
    Sexualtriebes – mußte freilich erweitert werden, bis er vieles
    einschloß, was sich nicht der Fortpflanzungsfunktion ein-
    ordnete, und darüber gab es Lärm genug in der strengen,
    vornehmen oder bloß heuchlerischen Welt.

    Der nächste Schritt erfolgte, als sich die Psychoanalyse
    näher an das psychologische Ich herantasten konnte, das
    ihr zunächst nur als verdrängende, zensurierende und zu
    Schutzbauten, Reaktionsbildungen befähigte Instanz bekannt
    geworden war. Kritische und andere weitblickende Geister
    hatten zwar längst gegen die Einschränkung des Libido-
    begriffes auf die Energie der dem Objekt zugewendeten
    Sexualtriebe Einspruch erhoben. Aber sie versäumten es mit-
    zuteilen, woher ihnen die bessere Einsicht gekommen war,
    und verstanden nicht, etwas für die Analyse Brauchbares aus
    ihr abzuleiten. In bedächtigerem Fortschreiten fiel es nun der
    psychoanalytischen Beobachtung auf, wie regelmäßig Libido
    vom Objekt abgezogen und aufs Ich gerichtet wird (Intro-
    version), und indem sie die Libidoentwicklung des Kindes
    in ihren frühesten Phasen studierte, kam sie zur Einsicht,
    daß das Ich das eigentliche und ursprüngliche Reservoir der
    Libido sei, die erst von da aus auf das Objekt erstreckt
    werde. Das Ich trat unter die Sexualobjekte und wurde gleich
    als das vornehmste unter ihnen erkannt. Wenn die Libido
    so im Ich verweilte, wurde sie narzißtisch genannt29. Diese
    narzißtische Libido war natürlich auch die Kraftäußerung
    von Sexualtrieben im analytischen Sinne, die man mit den
    von Anfang an zugestandenen „Selbsterhaltungstrieben“
    identifizieren mußte. Somit war der ursprüngliche Gegen-
    satz von Ichtrieben und Sexualtrieben unzureichend ge-
    worden. Ein Teil der Ichtriebe war als libidinös erkannt;

    29) Zur Einführung des Narzißmus. (In diesem Bande.)

  • S.

    233

    im Ich waren – neben anderen wahrscheinlich – auch
    Sexualtriebe wirksam, doch ist man berechtigt zu sagen, daß
    die alte Formel, die Psychoneurose beruhe auf einem Konflikt
    zwischen den Ichtrieben und den Sexualtrieben, nichts ent-
    hielt, was heute zu verwerfen wäre. Der Unterschied der
    beiden Triebarten, der ursprünglich irgendwie qualitativ
    gemeint war, ist jetzt nur anders, nämlich topisch zu
    bestimmen. Insbesondere die Übertragungsneurose, das eigent-
    liche Studienobjekt der Psychoanalyse, bleibt das Ergebnis
    eines Konflikts zwischen dem Ich und der libidinösen Objekt-
    besetzung.

    Um so mehr müssen wir den libidinösen Charakter der
    Selbsterhaltungstriebe jetzt betonen, da wir den weiteren
    Schritt wagen, den Sexualtrieb als den alles erhaltenden
    Eros zu erkennen und die narzißtische Libido des Ichs aus
    den Libidobeiträgen ableiten, mit denen die Somazellen an-
    einander haften. Nun aber finden wir uns plötzlich fol-
    gender Frage gegenüber: Wenn auch die Selbsterhaltungs-
    triebe libidinöser Natur sind, dann haben wir vielleicht
    überhaupt keine anderen Triebe als libidinöse. Es sind
    wenigstens keine anderen zu sehen. Dann muß man aber
    doch den Kritikern recht geben, die von Anfang an
    geahnt haben, die Psychoanalyse erkläre alles aus der
    Sexualität, oder den Neuerern wie Jung, die, kurz ent-
    schlossen, Libido für „Triebkraft“ überhaupt gebraucht
    haben. Ist dem nicht so?

    In unserer Absicht läge dies Resultat allerdings nicht. Wir
    sind ja vielmehr von einer scharfen Scheidung zwischen Ich-
    trieben = Todestrieben und Sexualtrieben = Lebenstrieben
    ausgegangen. Wir waren ja bereit, auch die angeblichen
    Selbsterhaltungstriebe des Ichs zu den Todestrieben zu rech-
    nen, was wir seither berichtigend zurückgezogen haben.
    Unsere Auffassung war von Anfang eine dualistische

  • S.

    234

    und sie ist es heute schärfer denn zuvor, seitdem wir die
    Gegensätze nicht mehr Ich‑ und Sexualtriebe, sondern
    Lebens‑ und Todestriebe benennen. Jungs Libidotheorie ist
    dagegen eine monistische; daß er seine einzige Triebkraft
    Libido geheißen hat, mußte Verwirrung stiften, soll uns aber
    weiter nicht beeinflussen. Wir vermuten, daß im Ich noch
    andere als die libidinösen Selbsterhaltungstriebe tätig sind;
    wir sollten nur imstande sein, sie aufzuzeigen. Es ist zu
    bedauern, daß die Analyse des Ichs so wenig fortgeschritten
    ist, daß dieser Nachweis uns recht schwer wird. Die
    libidinösen Triebe des Ichs mögen allerdings in besonderer
    Weise mit den anderen, uns noch fremden Ichtrieben ver-
    knüpft sein. Noch ehe wir den Narzißmus klar erkannt
    hatten, bestand bereits in der Psychoanalyse die Vermutung,
    daß die „Ichtriebe“ libidinöse Komponenten an sich ge-
    zogen haben. Aber das sind recht unsichere Möglichkeiten,
    denen die Gegner kaum Rechnung tragen werden. Es bleibt
    mißlich, daß uns die Analyse bisher immer nur in den Stand
    gesetzt hat, libidinöse Triebe nachzuweisen. Den Schluß,
    daß es andere nicht gibt, möchten wir darum doch nicht
    mitmachen.

    Bei dem gegenwärtigen Dunkel der Trieblehre tun wir
    wohl nicht gut, irgend einen Einfall, der uns Aufklärung
    verspricht, zurückzuweisen. Wir sind von der großen Gegen-
    sätzlichkeit von Lebens‑ und Todestrieben ausgegangen. Die
    Objektliebe selbst zeigt uns eine zweite solche Polarität, die
    von Liebe (Zärtlichkeit) und Haß (Aggression). Wenn es uns
    gelänge, diese beiden Polaritäten in Beziehung zu einander
    zu bringen, die eine auf die andere zurückzuführen! Wir
    haben von jeher eine sadistische Komponente des Sexual-
    triebes anerkannt30; sie kann sich, wie wir wissen, selbständig 

    30) „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, von der I. Auflage,
    1905, an. (Ges. Schriften, Bd. V.)

  • S.

    235

    machen und als Perversion das gesamte Sexualstreben der
    Person beherrschen. Sie tritt auch in einer der von mir
    sogenannten „prägenitalen Organisationen“ als dominierender
    Partialtrieb hervor. Wie soll man aber den sadistischen
    Trieb, der auf die Schädigung des Objekts zielt, vom lebens-
    erhaltenden Eros ableiten können? Liegt da nicht die An-
    nahme nahe, daß dieser Sadismus eigentlich ein Todestrieb
    ist, der durch den Einfluß der narzißtischen Libido vom Ich
    abgedrängt wurde, so daß er erst am Objekt zum Vorschein
    kommt? Er tritt dann in den Dienst der Sexualfunktion; im
    oralen Organisationsstadium der Libido fällt die Liebes-
    bemächtigung noch mit der Vernichtung des Objekts zu-
    sammen, später trennt sich der sadistische Trieb ab und end-
    lich übernimmt er auf der Stufe des Genitalprimats zum
    Zwecke der Fortpflanzung die Funktion, das Sexualobjekt
    so weit zu bewältigen, als es die Ausführung des Geschlechts-
    aktes erfordert. Ja, man könnte sagen, der aus dem Ich
    herausgedrängte Sadismus habe den libidinösen Komponenten
    des Sexualtriebs den Weg gezeigt; späterhin drängen diese
    zum Objekt nach. Wo der ursprüngliche Sadismus keine
    Ermäßigung und Verschmelzung erfährt, ist die bekannte
    Liebe‑Haß‑Ambivalenz des Liebeslebens hergestellt.

    Wenn es erlaubt ist, eine solche Annahme zu machen, so
    wäre die Forderung erfüllt, ein Beispiel eines – allerdings
    verschobenen – Todestriebes aufzuzeigen. Nur daß diese Auf-
    fassung von jeder Anschaulichkeit weit entfernt ist und einen
    geradezu mystischen Eindruck macht. Wir kommen in den
    Verdacht, um jeden Preis eine Auskunft aus einer großen
    Verlegenheit gesucht zu haben. Dann dürfen wir uns darauf
    berufen, daß eine solche Annahme nicht neu ist, daß wir
    sie bereits früher einmal gemacht haben, als von einer Ver-
    legenheit noch keine Rede war. Klinische Beobachtungen
    haben uns seinerzeit zur Auffassung genötigt, daß der dem

  • S.

    236

    Sadismus komplementäre Partialtrieb des Masochismus als
    eine Rückwendung des Sadismus gegen das eigene Ich zu
    verstehen sei31. Eine Wendung des Triebes vom Objekt zum
    Ich ist aber prinzipiell nichts anderes als die Wendung vom
    Ich zum Objekt, die hier als neu in Frage steht. Der
    Masochismus, die Wendung des Triebes gegen das eigene
    Ich, wäre dann in Wirklichkeit eine Rückkehr zu einer
    früheren Phase desselben, eine Regression. In einem Punkte
    bedürfte die damals vom Masochismus gegebene Darstellung
    einer Berichtigung als allzu ausschließlich; der Masochismus
    könnte auch, was ich dort bestreiten wollte, ein primärer
    sein32.

    Aber kehren wir zu den lebenserhaltenden Sexualtrieben
    zurück. Schon aus der Protistenforschung haben wir erfahren,
    daß die Verschmelzung zweier Individuen ohne nachfolgende
    Teilung, die Kopulation, auf beide Individuen, die sich dann
    bald von einander lösen, stärkend und verjüngend wirkt.
    (S. o. Lipschütz.) Sie zeigen in weiteren Generationen
    keine Degenerationserscheinungen und scheinen befähigt, den
    Schädlichkeiten ihres eigenen Stoffwechsels länger zu wider-
    stehen. Ich meine, daß diese eine Beobachtung als vorbildlich
    für den Effekt auch der geschlechtlichen Vereinigung genommen 

    31) Vgl. Drei Abhandl. zur Sexualtheorie (Ges. Schriften, Bd. V)
    und „Triebe und Triebschicksale“ (in diesem Bande, S. 58 ff).

    32) In einer inhalts‑ und gedankenreichen, für mich leider nicht
    ganz durchsichtigen Arbeit hat Sabina Spielrein ein ganzes
    Stück dieser Spekulation vorweggenommen. Sie bezeichnet die
    sadistische Komponente des Sexualtriebs als die „destruktive“. (Die
    Destruktion als Ursache des Werdens. Jahrbuch für Psychoanalyse,
    IV, 1912.) In noch anderer Weise suchte A. Stärcke (Inleiding
    by de vertaling von S. Freud, De sexuele beschavingsmoral etc.,
    1914) den Libidobegriff selbst mit dem theoretisch zu supponieren-
    den biologischen Begriff eines Antriebes zum Tode zu
    identifizieren. (Vgl. auch Rank, Der Künstler.) Alle diese Be-
    mühungen zeigen, wie die im Texte, von dem Drang nach einer
    noch nicht erreichten Klärung in der Trieblehre.

  • S.

    237

    werden darf. Aber auf welche Weise bringt die
    Verschmelzung zweier wenig verschiedener Zellen eine solche
    Erneuerung des Lebens zustande? Der Versuch, der die
    Kopulation bei den Protozoen durch die Einwirkung
    chemischer, ja selbst mechanischer Reize (l. c.) ersetzt, ge-
    stattet wohl, eine sichere Antwort zu geben: Es geschieht
    durch die Zufuhr neuer Reizgrößen. Das stimmt nun aber
    gut zur Annahme, daß der Lebensprozeß des Individuums
    aus inneren Gründen zur Abgleichung chemischer Span-
    nungen, das heißt zum Tode führt, während die Vereinigung
    mit einer individuell verschiedenen lebenden Substanz diese
    Spannungen vergrößert, sozusagen neue Vitaldifferen-
    zen
    einführt, die dann abgelebt werden müssen. Für
    diese Verschiedenheit muß es natürlich ein oder mehrere
    Optima geben. Daß wir als die herrschende Tendenz des
    Seelenlebens, vielleicht des Nervenlebens überhaupt, das
    Streben nach Herabsetzung, Konstanterhaltung, Aufhebung
    der inneren Reizspannung erkannten (das Nirwana-
    prinzip
    nach einem Ausdruck von Barbara Low), wie
    es im Lustprinzip zum Ausdruck kommt, das ist ja eines
    unserer stärksten Motive, an die Existenz von Todestrieben
    zu glauben.

    Als empfindliche Störung unseres Gedankenganges ver-
    spüren wir es aber noch immer, daß wir gerade für den
    Sexualtrieb jenen Charakter eines Wiederholungszwanges
    nicht nachweisen können, der uns zuerst zur Aufspürung der
    Todestriebe führte. Das Gebiet der embryonalen Entwick-
    lungsvorgänge ist zwar überreich an solchen Wiederholungs-
    erscheinungen, die beiden Keimzellen der geschlechtlichen
    Fortpflanzung und ihre Lebensgeschichte sind selbst nur
    Wiederholungen der Anfänge des organischen Lebens; aber
    das Wesentliche an den vom Sexualtrieb intendierten Vor-
    gängen ist doch die Verschmelzung zweier Zelleiber. Erst

  • S.

    238

    durch diese wird bei den höheren Lebewesen die Unsterb-
    lichkeit der lebenden Substanz gesichert.

    Mit anderen Worten: wir sollen Auskunft schaffen über
    die Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung und die
    Herkunft der Sexualtriebe überhaupt, eine Aufgabe, vor der
    ein Außenstehender zurückschrecken muß, und die von den
    Spezialforschern selbst bisher noch nicht gelöst werden
    konnte. In knappster Zusammendrängung sei darum aus all
    den widerstreitenden Angaben und Meinungen hervor-
    gehoben, was einen Anschluß an unseren Gedankengang zu-
    läßt. 

    Die eine Auffassung benimmt dem Problem der Fort-
    pflanzung seinen geheimnisvollen Reiz, indem sie die Fort-
    pflanzung als eine Teilerscheinung des Wachstums darstellt
    (Vermehrung durch Teilung, Sprossung, Knospung). Die
    Entstehung der Fortpflanzung durch geschlechtlich differen-
    zierte Keimzellen könnte man sich nach nüchterner Dar-
    win
    scher Denkungsart so vorstellen, daß der Vorteil der
    Amphimixis, der sich dereinst bei der zufälligen Kopulation
    zweier Protisten ergab, in der ferneren Entwicklung fest-
    gehalten und weiter ausgenützt wurde33. Das „Geschlecht“
    wäre also nicht sehr alt, und die außerordentlich heftigen
    Triebe, welche die geschlechtliche Vereinigung herbeiführen
    wollen, wiederholten dabei etwas, was sich zufällig einmal
    ereignet und seither als vorteilhaft befestigt hat.

    Es ist hier wiederum wie beim Tod die Frage, ob man

    33) Obwohl Weismann (Das Keimplasma, 1892) auch diesen
    Vorteil leugnet: „Die Befruchtung bedeutet keinesfalls eine Ver-
    jüngung oder Erneuerung des Lebens, sie wäre durchaus nicht
    notwendig zur Fortdauer des Lebens, sie ist nichts als eine
    Einrichtung, um die Vermischung zweier ver-
    schiedener Vererbungstendenzen
    möglich zu
    machen.
    “ Als die Wirkung einer solchen Vermischung betrachtet
    er aber doch eine Steigerung der Variabilität der Lebewesen.

  • S.

    239

    bei den Protisten nichts anderes gelten lassen soll, als was
    sie zeigen, und ob man annehmen darf, daß Kräfte und
    Vorgänge, die erst bei höheren Lebewesen sichtbar werden,
    auch bei diesen zuerst entstanden sind. Für unsere Absichten
    leistet die erwähnte Auffassung der Sexualität sehr wenig.
    Man wird gegen sie einwenden dürfen, daß sie die Existenz
    von Lebenstrieben, die schon im einfachsten Lebewesen wir-
    ken, voraussetzt, denn sonst wäre ja die Kopulation, die dem
    Lebenslauf entgegenwirkt und die Aufgabe des Ablebens er-
    schwert, nicht festgehalten und ausgearbeitet, sondern ver-
    mieden worden. Wenn man also die Annahme von Todes-
    trieben nicht fahren lassen will, muß man ihnen von allem
    Anfang an Lebenstriebe zugesellen. Aber man muß es zu-
    gestehen, wir arbeiten da an einer Gleichung mit zwei Un-
    bekannten. Was wir sonst in der Wissenschaft über die
    Entstehung der Geschlechtlichkeit finden, ist so wenig, daß
    man dies Problem einem Dunkel vergleichen kann, in welches
    auch nicht der Lichtstrahl einer Hypothese gedrungen ist.
    An ganz anderer Stelle begegnen wir allerdings einer solchen
    Hypothese, die aber von so phantastischer Art ist, – gewiß
    eher ein Mythus als eine wissenschaftliche Erklärung – daß
    ich nicht wagen würde, sie hier anzuführen, wenn sie nicht
    gerade die eine Bedingung erfüllen würde, nach deren Er-
    füllung wir streben. Sie leitet nämlich einen Trieb ab von
    dem Bedürfnis nach Wiederherstellung
    eines früheren Zustandes
    .

    Ich meine natürlich die Theorie, die Plato im Sym-
    posion
    durch Aristophanes entwickeln läßt, und die
    nicht nur die Herkunft des Geschlechtstriebes, sondern auch
    seiner wichtigsten Variation in Bezug auf das Objekt be-
    handelt34.

    34) Übersetzung von U. v. Wilamowitz‑Moellen-
    dorff
    (Platon I, S. 366f.).

  • S.

    240

    Unser Leib war nämlich zuerst gar nicht ebenso gebildet
    wie jetzt; er war ganz anders. Erstens gab es drei Ge-
    schlechter, nicht bloß wie jetzt männlich und weiblich, son-
    dern noch ein drittes, das die beiden vereinigte … das Mann-
    weibliche …
    “ Alles an diesen Menschen war aber doppelt,
    sie hatten also vier Hände und vier Füße, zwei Gesichter,
    doppelte Schamteile usw. Da ließ sich Zeus bewegen, jeden
    Menschen in zwei Teile zu teilen, „wie man die Quitten
    zum Einmachen durchschneidet … Weil nun das ganze
    Wesen entzweigeschnitten war, trieb die Sehnsucht die beiden
    Hälften zusammen: sie umschlangen sich mit den Händen,
    verflochten sich ineinander im Verlangen, zusam-
    menzuwachsen …
    35

    35) Prof. Heinrich Gomperz (Wien) verdanke ich die nach-
    stehenden Andeutungen über die Herkunft des Platonischen 
    Mythus, die ich zum Teil in seinen Worten wiedergebe: Ich möchte
    darauf aufmerksam machen, daß sich wesentlich dieselbe Theorie
    auch schon in den Upanishaden findet. Denn Brihad‑
    Āranyaka‑Upanishad
    , I, 4‚ 3 (Deussen, 60 Upanishads
    des Veda, S. 393), wo das Hervorgehen der Welt aus dem Ātman
    (dem Selbst oder Ich) geschildert wird, heißt es: „…  Aber er (der
    Ātman‚ das Selbst oder das Ich) hatte auch keine Freude; darum
    hat einer keine Freude, wenn er allein ist. Da begehrte er nach
    einem Zweiten. Nämlich er war so groß wie ein Weib und ein
    Mann, wenn sie sich umschlungen halten. Dieses sein Selbst zer-
    fällte er in zwei Teile: daraus entstanden Gatte und Gattin.
    Darum ist dieser Leib an dem Selbst gleichsam eine Halbscheid,
    so nämlich hat es Yâjñavalkya erklärt. Darum wird dieser
    leere Raum hier durch das Weib ausgefüllt.
    “ 
    Die Brihad‑Āranyaka‑Upanishad ist die älteste aller
    Upanishaden und wird wohl von keinem urteilsfähigen Forscher
    angesetzt als etwa um das Jahr 800 v. Chr. Die Frage, ob
    eine, wenn auch nur mittelbare Abhängigkeit Platos von diesen
    indischen Gedanken möglich wäre, möchte ich im Gegensatz zur
    herrschenden Meinung nicht unbedingt verneinen, da eine solche
    Möglichkeit wohl auch für die Seelenwanderungslehre nicht ge-
    radezu in Abrede gestellt werden kann. Eine solche, zunächst
    durch Pythagoreer vermittelte Abhängigkeit würde dem gedank-
    lichen Zusammentreffen kaum etwas von seiner Bedeutsamkeit

  • S.

    241

    Sollen wir, dem Wink des Dichterphilosophen folgend, die
    Annahme wagen, daß die lebende Substanz bei ihrer Be-
    lebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch
    die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben? Daß diese
    Triebe, in denen sich die chemische Affinität der unbelebten
    Materie fortsetzt, durch das Reich der Protisten hindurch
    allmählich die Schwierigkeiten überwinden, welche eine mit
    lebensgefährlichen Reizen geladene Umgebung diesem
    Streben entgegensetzt, die sie zur Bildung einer schützenden
    Rindenschicht nötigt? Daß diese zersprengten Teilchen
    lebender Substanz so die Vielzelligkeit erreichen und endlich
    den Keimzellen den Trieb zur Wiedervereinigung in höchster
    Konzentration übertragen? Ich glaube, es ist hier die Stelle,
    abzubrechen.

    Doch nicht, ohne einige Worte kritischer Besinnung anzu-
    schließen. Man könnte mich fragen, ob und inwieweit ich
    selbst von den hier entwickelten Annahmen überzeugt bin.
    Meine Antwort würde lauten, daß ich weder selbst über-
    zeugt bin, noch bei anderen um Glauben für sie werbe.
    Richtiger: ich weiß nicht, wie weit ich an sie glaube. Es
    scheint mir, daß das affektive Moment der Überzeugung hier
    gar nicht in Betracht zu kommen braucht. Man kann sich
    doch einem Gedankengang hingeben, ihn verfolgen, soweit
    er führt, nur aus wissenschaftlicher Neugierde oder, wenn
    man will, als advocatus diaboli, der sich darum doch nicht 

    nehmen, da Plato eine derartige ihm irgendwie aus orientalischer
    Überlieferung zugetragene Geschichte sich nicht zu eigen gemacht,
    geschweige denn ihr eine so bedeutsame Stellung angewiesen hätte,
    hätte sie ihm nicht selbst als wahrheitshältig eingeleuchtet. 
    In einem Aufsatz von K. Ziegler, Menschen‑ und Welten-
    werden (Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Bd. 31,
    S. 529 ff., 1913), der sich planmäßig mit der Erforschung des
    fraglichen Gedankens vor Plato beschäftigt, wird dieser auf
    babylonische Vorstellungen zurückgeführt.

  • S.

    242

    dem Teufel selbst verschreibt. Ich verkenne nicht, daß der
    dritte Schritt in der Trieblehre, den ich hier unternehme,
    nicht dieselbe Sicherheit beanspruchen kann wie die beiden
    früheren, die Erweiterung des Begriffs der Sexualität und die
    Aufstellung des Narzißmus. Diese Neuerungen waren direkte
    Übersetzungen der Beobachtung in Theorie, mit nicht größeren
    Fehlerquellen behaftet, als in all solchen Fällen unvermeidlich
    ist. Die Behauptung des regressiven Charakters der
    Triebe ruht allerdings auch auf beobachtetem Material, näm-
    lich auf den Tatsachen des Wiederholungszwanges. Allein
    vielleicht habe ich deren Bedeutung überschätzt. Die Durch-
    führung dieser Idee ist jedenfalls nicht anders möglich, als
    daß man mehrmals nacheinander Tatsächliches mit bloß
    Erdachtem kombiniert und sich dabei weit von der Be-
    obachtung entfernt. Man weiß, daß das Endergebnis um so
    unverläßlicher wird, je öfter man dies während des Aufbaues
    einer Theorie tut, aber der Grad der Unsicherheit ist nicht
    angebbar. Man kann dabei glücklich geraten haben oder
    schmählich in die Irre gegangen sein. Der sogenannten In-
    tuition traue ich bei solchen Arbeiten wenig zu; was ich von
    ihr gesehen habe, schien mir eher der Erfolg einer gewissen
    Unparteilichkeit des Intellekts. Nur daß man leider selten
    unparteiisch ist, wo es sich um die letzten Dinge, die großen
    Probleme der Wissenschaft und des Lebens handelt. Ich
    glaube, ein jeder wird da von innerlich tief begründeten
    Vorlieben beherrscht, denen er mit seiner Spekulation un-
    wissentlich in die Hände arbeitet. Bei so guten Gründen zum
    Mißtrauen bleibt wohl nichts anderes als ein kühles Wohl-
    wollen für die Ergebnisse der eigenen Denkbemühung mög-
    lich. Ich beeile mich nur hinzuzufügen, daß solche Selbst-
    kritik durchaus nicht zu besonderer Toleranz gegen ab-
    weichende Meinungen verpflichtet. Man darf unerbittlich
    Theorien abweisen, denen schon die ersten Schritte in der

  • S.

    243

    Analyse der Beobachtung widersprechen, und kann dabei
    doch wissen, daß die Richtigkeit derer, die man vertritt, doch
    nur eine vorläufige ist. In der Beurteilung unserer Speku-
    lation über die Lebens‑ und Todestriebe würde es uns wenig
    stören, daß so viel befremdende und unanschauliche Vor-
    gänge darin vorkommen, wie ein Trieb werde von anderen
    herausgedrängt, oder er wende sich vom Ich zum Objekt
    und dergleichen. Dies rührt nur daher, daß wir genötigt
    sind, mit den wissenschaftlichen Terminis, das heißt mit der
    eigenen Bildersprache der Psychologie (richtig: der Tiefen-
    psychologie) zu arbeiten. Sonst könnten wir die entspre-
    chenden Vorgänge überhaupt nicht beschreiben, ja, wür-
    den sie gar nicht wahrgenommen haben. Die Mängel
    unserer Beschreibung würden wahrscheinlich verschwin-
    den, wenn wir anstatt der psychologischen Termini schon
    die physiologischen oder chemischen einsetzen könnten.
    Diese gehören zwar auch nur einer Bildersprache an, aber
    einer uns seit längerer Zeit vertrauten und vielleicht auch
    einfacheren.

    Hingegen wollen wir uns recht klar machen, daß die
    Unsicherheit unserer Spekulation zu einem hohen Grade
    durch die Nötigung gesteigert wurde, Anleihen bei der bio-
    logischen Wissenschaft zu machen. Die Biologie ist wahr-
    lich ein Reich der unbegrenzten Möglichkeiten, wir haben
    die überraschendsten Aufklärungen von ihr zu erwarten und
    können nicht erraten, welche Antworten sie auf die von
    uns an sie gestellten Fragen einige Jahrzehnte später geben
    würde. Vielleicht gerade solche, durch die unser ganzer
    künstlicher Bau von Hypothesen umgeblasen wird. Wenn
    dem so ist, könnte jemand fragen, wozu unternimmt man
    also solche Arbeiten, wie die in diesem Abschnitt nieder-
    gelegte, und warum bringt man sie doch zur Mitteilung?
    Nun, ich kann nicht in Abrede stellen, daß einige der

  • S.

    244

    Analogien, Verknüpfungen und Zusammenhänge darin mir
    der Beachtung würdig erschienen sind36.

    VII

    Wenn es wirklich ein so allgemeiner Charakter der Triebe
    ist, daß sie einen früheren Zustand wiederherstellen wollen,

    36) Anschließend hier einige Worte zur Klärung unserer Namen-
    gebung, die im Laufe dieser Erörterungen eine gewisse Entwick-
    lung durchgemacht hat. Was „Sexualtriebe“ sind, wußten wir
    aus ihrer Beziehung zu den Geschlechtern und zur Fortpflanzungs-
    funktion. Wir behielten dann diesen Namen bei, als wir durch
    die Ergebnisse der Psychoanalyse genötigt waren, deren Beziehung
    zur Fortpflanzung zu lockern. Mit der Aufstellung der narziß-
    tischen Libido und der Ausdehnung des Libidobegriffes auf die
    einzelne Zelle wandelte sich uns der Sexualtrieb zum Eros, der
    die Teile der lebenden Substanz zueinanderzudrängen und zu-
    sammenzuhalten sucht, und die gemeinhin so genannten Sexual-
    triebe erschienen als der dem Objekt zugewandte Anteil dieses
    Eros. Die Spekulation läßt dann diesen Eros vom Anfang des
    Lebens an, wirken und als „Lebenstrieb“ im Gegensatz zum
    „Todestrieb“ treten, der durch die Belebung des Anorganischen
    entstanden ist. Sie versucht das Rätsel des Lebens durch die An-
    nahme dieser beiden von Uranfang an miteinander ringenden
    Triebe zu lösen. Unübersichtlicher ist vielleicht die Wandlung, die
    der Begriff der „Ichtriebe“ erfahren hat. Ursprünglich nannten
    wir so alle jene von uns nicht näher gekannten Triebrichtungen,
    die sich von den auf das Objekt gerichteten Sexualtrieben ab-
    scheiden lassen, und brachten die Ichtriebe im Gegensatz zu den
    Sexualtrieben, deren Ausdruck die Libido ist. Späterhin näherten
    wir uns der Analyse des Ichs und erkannten, daß auch ein Teil
    der „Ichtriebe“ libidinöser Natur ist, das eigene Ich zum Objekt
    genommen hat. Diese narzißtischen Selbsterhaltungstriebe mußten
    also jetzt den libidinösen Sexualtrieben zugerechnet werden. Der
    Gegensatz zwischen Ich- und Sexualtrieben wandelte sich in den
    zwischen Ich‑ und Objekttrieben, beide libidinöser Natur. An
    seine Stelle trat aber ein neuer Gegensatz zwischen libidinösen
    (Ich‑ und Objekt‑) Trieben und anderen, die im Ich zu statuieren
    und vielleicht in den Destruktionstrieben aufzuzeigen sind. Die
    Spekulation wandelt diesen Gegensatz in den von Lebenstrieben
    (Eros) und von Todestrieben um.

  • S.

    245

    so dürfen wir uns nicht darüber verwundern, daß im Seelen-
    leben so viele Vorgänge sich unabhängig vom Lustprinzip
    vollziehen. Dieser Charakter würde sich jedem Partialtrieb
    mitteilen und sich in seinem Falle auf die Wiedererreichung
    einer bestimmten Station des Entwicklungsweges beziehen.
    Aber all dies, worüber das Lustprinzip noch keine Macht
    bekommen hat, brauchte darum noch nicht im Gegensatz
    zu ihm zu stehen, und die Aufgabe ist noch ungelöst, das
    Verhältnis der triebhaften Wiederholungsvorgänge zur Herr-
    schaft des Lustprinzips zu bestimmen.

    Wir haben es als eine der frühesten und wichtigsten
    Funktionen des seelischen Apparates erkannt, die anlangen-
    den Triebregungen zu „binden“, den in ihnen herrschenden
    Primärvorgang durch den Sekundärvorgang zu ersetzen, ihre
    frei bewegliche Besetzungsenergie in vorwiegend ruhende
    (tonische) Besetzung umzuwandeln. Während dieser Um-
    setzung kann auf die Entwicklung von Unlust nicht Rück-
    sicht genommen werden, allein das Lustprinzip wird dadurch
    nicht aufgehoben. Die Umsetzung geschieht vielmehr im
    Dienste des Lustprinzips; die Bindung ist ein vorbereitender
    Akt, der die Herrschaft des Lustprinzips einleitet und
    sichert.

    Trennen wir Funktion und Tendenz schärfer voneinander,
    als wir es bisher getan haben. Das Lustprinzip ist dann eine
    Tendenz, welche im Dienste einer Funktion steht, der es
    zufällt, den seelischen Apparat überhaupt erregungslos zu
    machen, oder den Betrag der Erregung in ihm konstant oder 
    möglichst niedrig zu erhalten. Wir können uns noch für
    keine dieser Fassungen sicher entscheiden, aber wir merken,
    daß die so bestimmte Funktion Anteil hätte an dem allge-
    meinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen
    Welt zurückzukehren. Wir haben alle erfahren, daß die
    größte uns erreichbare Lust, die des Sexualaktes, mit dem

  • S.

    246

    momentanen Erlöschen einer hochgesteigerten Erregung ver-
    bunden ist. Die Bindung der Triebregung wäre aber eine
    vorbereitende Funktion, welche die Erregung für ihre end-
    gültige Erledigung in der Abfuhrlust zurichten soll.

    Aus demselben Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob
    die Lust‑ und Unlustempfindungen von den gebundenen wie
    von den ungebundenen Erregungsvorgängen in gleicher Weise
    erzeugt werden können. Da erscheint es denn ganz un-
    zweifelhaft, daß die ungebundenen, die Primärvorgänge, weit
    intensivere Empfindungen nach beiden Richtungen ergeben
    als die gebundenen, die des Sekundärvorganges. Die Primär-
    vorgänge sind auch die zeitlich früheren, zu Anfang des
    Seelenlebens gibt es keine anderen, und wir können schließen,
    wenn das Lustprinzip nicht schon bei ihnen in Wirksamkeit
    wäre, könnte es sich überhaupt für die späteren nicht her-
    stellen. Wir kommen so zu dem im Grunde nicht einfachen
    Ergebnis, daß das Luststreben zu Anfang des seelischen Lebens
    sich weit intensiver äußert als späterhin, aber nicht so un-
    eingeschränkt; es muß sich häufige Durchbrüche gefallen
    lassen. In reiferen Zeiten ist die Herrschaft des Lustprinzips
    sehr viel mehr gesichert, aber dieses selbst ist der Bändigung
    so wenig entgangen wie die anderen Triebe überhaupt. Jeden-
    falls muß das, was am Erregungsvorgange die Empfindungen
    von Lust und Unlust entstehen läßt, beim Sekundärvorgang
    ebenso vorhanden sein wie beim Primärvorgang.

    Hier wäre die Stelle, mit weiteren Studien einzusetzen.
    Unser Bewußtsein vermittelt uns von innen her nicht nur
    die Empfindungen von Lust und Unlust, sondern auch von
    einer eigentümlichen Spannung, die selbst wieder eine lust-
    volle oder unlustvolle sein kann. Sind es nun die gebun-
    denen und die ungebundenen Energievorgänge, die wir mittels
    dieser Empfindungen von einander unterscheiden sollen, oder
    ist die Spannungsempfindung auf die absolute Größe, eventuell 

  • S.

    247

    das Niveau der Besetzung zu beziehen, während die
    Lust‑Unlustreihe auf die Änderung der Besetzungsgröße in
    der Zeiteinheit hindeutet? Es muß uns auch auffallen, daß
    die Lebenstriebe so viel mehr mit unserer inneren Wahr-
    nehmung zu tun haben, da sie als Störenfriede auftreten,
    unausgesetzt Spannungen mit sich bringen, deren Erledigung
    als Lust empfunden wird, während die Todestriebe ihre
    Arbeit unauffällig zu leisten scheinen. Das Lustprinzip
    scheint geradezu im Dienste der Todestriebe zu stehen; es
    wacht allerdings auch über die Reize von außen, die von
    beiderlei Triebarten als Gefahren eingeschätzt werden, aber
    ganz besonders über die Reizsteigerungen von innen her, die
    eine Erschwerung der Lebensaufgabe erzielen. Hieran
    knüpfen sich ungezählte andere Fragen, deren Beantwortung
    jetzt nicht möglich ist. Man muß geduldig sein und auf
    weitere Mittel und Anlässe zur Forschung warten. Auch
    bereit bleiben, einen Weg wieder zu verlassen, den man eine
    Weile verfolgt hat, wenn er zu nichts Gutem zu führen
    scheint. Nur solche Gläubige, die von der Wissenschaft einen
    Ersatz für den aufgegebenen Katechismus fordern, werden
    dem Forscher die Fortbildung oder selbst die Umbildung
    seiner Ansichten verübeln. Im übrigen mag uns ein Dichter
    (Rückert in den Makamen des Hariri) über die lang-
    samen Fortschritte unserer wissenschaftlichen Erkenntnis
    trösten:

    „Was man nicht erfliegen kann, muß man erhinken.

    Die Schrift sagt, es ist keine Sünde zu hinken.“