• S.

    Prof. Dr. Freud 23.5.1924
    Wien, IX. Berggasse 19

    Lieber Herr Doktor

    Ihr erster Brief angekommen. Sehr erfreut, daß Sie nicht seekrank waren; dann ist die Fahrt über den schmutzigen Ozean ein schönes Vergnügen. Und sehr amüsiert über die volle Identität Ihrer Eindrücke mit meinen 15 Jahre vorher. Nirgends wird man von der Sinnlosigkeit des menschlichen Treibens so überwältigt wie dort, wo auch die lustvolle Befriedigung der natürlichen animalischen Bedürfnisse nicht mehr als Lebensziel anerkannt wird. Es ist eine verrückte anale Adlerei.

    Ich bin auch sehr froh, daß Sie die einzig vernünftige Art des Benehmens gefunden haben, die dem Aufenthalt unter diesen Wilden entspricht: sein Leben möglichst theuer zu verkaufen.

    Nett, daß Sie fast alle meine Analysanden wieder bekommen haben, an deren Analyse ich ohne jede Befriedigg denke. Mir schien oft, zum Amerikaner passe die ΨA so wie zum Raben ein weißes Hemd.

    Was hier in Verein u Verlag vorgeht, brauchen Sie ja nicht durch mich zu erfahren. Ich halte mich noch immer fern. Sachs hat angeboten, nach Wien zu kommen, um bei der Imago zu helfen. Mit Ferenczi habe ich einige Bemerkungen über Redaktions¬angelegenheiten gewechselt. Neu eingelangt ist ein Mnskpt von dem Sophisten Kinkel [Rinkel?], ein Kapitel eines bulgarischen mir gewidmeten Buches u eines von Hollós: Analyse eines

  • S.

    Frühgeborenen, noch nicht gelesen; es dürfte für Ihr Geburts¬trauma interessant sein.

    Mein Befinden war auf dem Semmering nicht glänzend, hat sich seither langsam gebessert. Wer objektive Anzeichen schätzt, kann sich darauf berufen, daß mich mein Arzt nur alle drei Wochen sehen will u mir gestattet hat, im Juli August in die Schweiz zu gehen. Ich halte mich an die subjektive Seite, bin recht unzufrieden und skeptisch.

    Sie haben vielleicht gehört, daß ich zu meinem Geburtstag Bürger der Stadt Wien geworden bin. Trotzdem hat sich in dieser Stadt seither nicht viel geändert. Auch die abscheu-liche Geschäftskrise und die Sorge um den Ausgang der "Sanirung" sind unvermindert geblieben.

    Ich hatte den Besuch von Romain Rolland u vorgestern von Alb. Schaeffer, dem Dichter des Josef Montfort. Letzterer eher eine Enttäuschg, sieht aus wie ein Hitler-Knabe, ist wieder weit weg von unserer Analyse.

    Lassen Sie mir alle Eichhörnchen grüßen u füttern Sie sie auch in meinem Namen mit Affennüssen. Der eigentliche, wirklich sehenswerte Tiergarten ist in Bronx.

    Herzlich Ihr
    Freud

    P.S.
    Ich habe wieder einen kl. Aufsatz: Realitätsverlust bei Neurose u Psychose geschrieben.